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Die Schriftstellerin Judith Hermann. Sie wurde 1970 in Berlin geboren.

© Andreas Reiberg/Fischer Verlag

Judith Hermanns Buch „Wir hätten uns alles gesagt“: Unerwartet viel Privates

Die Frankfurter Poetikvorlesung der Berliner Schriftstellerin erscheint jetzt auch als Buch – und liest sich wie ein autofiktionaler Judith-Hermann-Roman.

Als Judith Hermann im Mai des vergangenen Jahres die Frankfurter Poetikvorlesung hielt, verblüffte sie das Publikum im Hörsaalzentrum der Goethe-Universität zu Beginn mit der Aussage, dass bei der Arbeit „unerwartet Privates im Text aufgetaucht“ sei und sich zeigen werde, „ob das zu bereuen ist“.

Dieser Satz steht nun auch in einer kurzen Vorbemerkung der Buchversion von Hermanns Poetikvorlesung mit dem Titel „Wir hätten uns alles gesagt“, was die Sorge der Berliner Schriftstellerin noch einmal zu unterstreichen scheint. Denn die Flüchtigkeit des gesprochenen Worts in ein Auditorium herein ist das eine, das geschriebene, gedruckte Wort das andere. 

Tatsächlich hat Judith Hermann sich mit privaten Äußerungen in der Öffentlichkeit immer zurückgehalten; auch in ihren Büchern lassen sich nie gezielte Rückschlüsse zu ihrer Person ziehen. Das autofiktionale Schreiben ist ihre Sache nicht. Genauso wenig übrigens wie präzisere Auskünfte über Ursprung und Hintergrund ihrer Bücher zu geben, diese erläutern zu müssen. Auf Bühnen oder in Interviews meinte man immer ein Unwohlsein bei der Schriftstellerin zu spüren, eine gewisse Verweigerungshaltung gar.   

Mein Schreiben ist an diese frühen Jahre gebunden.

Judith Hermann

Man hat bei der Lektüre ihres gesamten Werkes allerdings schon das Gefühl, von ihrem 2001 veröffentlichten Debüt „Sommerhaus, später“ an, dass Hermanns eigener Lebenshintergrund die Folie ist, auf der sie ihre Geschichten erzählt und ihre zwei Romane geschrieben hat. Umso besser passt der Untertitel der dreiteiligen Vorlesung, „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“. 

Dass sie nun relativ ausführlich von ihrer Kindheit und ihrem Aufwachsen erzählt, ist so nun durchaus eine Überraschung. Das dauert zwar und wird über einen längeren Umweg intoniert, mündend in einen Traum über eine Puppenstube, die ihr Vater ihr einst gebaut hatte, und ein Buch, das sie in ihrer Kindheit zu lesen geliebt hat.

Es bekommt dann aber offen autobiografischen Charakter, ohne dass Hermann das Eigentliche so einer Poetikvorlesung außer Acht lässt, den Blick in die eigene Schreibwerkstatt: „Mein Schreiben ist an diese frühen Jahre gebunden. Eindrücke, Empfindungen, Gedanken, Ahnungen aus einem Damals. An die Konstitution meiner Familie gebunden, deren Struktur ich nicht begründen werde.“ 

Geboren 1970 in Berlin, wächst Hermann nach eigenem Bekunden bei ihrer Großmutter auf  - obwohl auch ihre Eltern und später ihre sieben Jahre jüngeren Zwillingsgeschwister in der „weitläufigen, verwinkelten“ Neuköllner Altbauwohnung leben. Doch der Vater, zunächst noch Mathematik- und Physikstudent, ist depressiv und hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt; und die Mutter diejenige, die für den Familienunterhalt sorgt, viel arbeitet und sich nur wenig um ihre Erstgeborene kümmern kann.

„Unkonventionell“ nennt Hermann die Verhältnisse, in denen sie aufwächst. Zudem holt sie weiter aus und berichtet von der Herkunft ihrer Großmutter, der Mutter ihres Vaters, und ihrer anderen Großmutter. Und sie erzählt unter anderem von der Beerdigung des Großvaters, eine traumatische Angelegenheit, von der Beziehung ihrer Eltern und was diese eigentlich verband und vor allem nicht. Oder davon, dass der Vater nach dem Tod der Großmütter zehn Jahre lang in der Psychiatrie quasi verschwindet. 

Wie sich diese frühen Jahre, diese Verhältnisse genau auf ihr Schreiben ausgewirkt haben, das wiederum vermag Hermann nicht hell auszuleuchten. Vielleicht will sie es auch nicht. Doch über ihre Anfänge im schleswig-holsteinischen Wewelsfleht, wo sie ein Stipendium im Döblin-Haus von Günter Grass hatte, kommt sie nach und nach zum Kern ihrer Literatur, der als solcher gar nicht benannt werden kann, den sie lieber umkreist. Auch weil sie sich nie sicher ist, ob die Geschichten, die sie erzählen will, dann auch die Geschichten sind, die in ihren Büchern stehen.  

Der Konjunktiv als Schreibmotor

Diese Eigendynamik bei der Geschichtenentstehung durchzieht als Grundmotiv „Wir hätten uns alles gesagt“; der Konjunktiv ist gewissermaßen Hermanns Schreibmotor. Sie kommt dabei auch auf einen der übelsten Verrisse ihres 2014 veröffentlichten Romans „Aller Liebe Anfang“ zu sprechen. Darin wurde ihr attestiert, dass sie gar nichts zu erzählen habe.

Was sie inzwischen gar nicht so abwegig findet, „weil ich das, was ich eigentlich zu erzählen habe, nicht erzählen kann.“  Desweiteren folgert Hermann, dass sie „das Eigentliche nicht erzählen“ könne, sie genau das verschweige, das habe sich von der Familie gelöst, nach Außen gewandt und sich, „durchaus im psychoanalytischen Sinne, übertragen.“

In diesem Sinn untersucht sie mit noch einigen anderen, durchaus in ihre Lebenszusammenhänge eingebetteten Beispielen ihre ganz eigene Art des Vorbeierzählens. So hat sie einen Freund, der einmal alles von ihr wissen will, der fordert, er und sie sollten sich komplett öffnen, sie sollten „aufmachen“.

Im besten Fall sollen Geschichten „glühen“

Hermann empfindet das als abwegig, weil zu gefährlich, „im Leben wie im Schreiben wie im Lesen“. Für sie sind Geschichten vorbei, wenn sie „aufgemacht“ werden, sie liebt solche mit offenen Enden. Und wähnt im Zentrum jeder Geschichte ein schwarzes Loch, das aber weder schwarz noch finster sei, sondern „im besten Fall glühen“ könne.

Das tun so einige davon in diesem Band, ohne dass Hermann diese auserzählen würde, sei es die über das entmietete Neuköllner Haus, in dem die Eltern zum Schluss drei Jahre lang allein wohnen. Sei es die über einen Besuch in der neuen, nur noch anderthalb Zimmer großen Wohnung der Eltern in Charlottenburg während einem der Pandemie-Lockdowns. An diesen schließt sie an, darüber dereinst nur schreiben zu können, wenn die Pandemie zu einem Ende, aber noch viel mehr das Verhältnis zu ihren Eltern ein für allemal geklärt ist. 

Es sind mitunter bemerkenswert schöne und klare Sätze, die Hermann über ihr Schreiben und das Verschweigen in ihrer Literatur formuliert; Sätze, die wiederum gut beschreiben, was ihre Erählungen und Romane ausmacht: das Verhangene, das Vage, das oft Ungeklärte in den Beziehungen ihrer Figuren, deren Träumereien und Ziellosigkeit gerade in ihren beiden ersten Erzählbänden „Sommerhaus, später“ und „Nichts als Gespenster“.

Man erkennt diese Figuren auch hier wieder, da sie realer Natur zu sein scheinen, Ada, Marco oder Jon, nur dass das Autorinnen-Ich dieses Mal im Zentrum steht. Selbst ihr Psychoanalytiker könnte eine fiktive Figur sein: Er bestimmt das erste Drittel von „Wir hätten uns alles gesagt“, auch weil sie ihm viel erzählt hat, aber eben nicht alles, weil das in ihre Bücher eingehen sollte. Fiktion und Realität verschwimmen so nach und nach.

Die Frankfurter Poetikvorlesung kann so als ein ganz eigenständiges Judith-Hermann-Werk gelten. Hermann will am Ende das von ihr Erzählte, ihre privaten Auskünfte zwar nicht noch einmal in Frage stellen, doch hebt sie alles zumindest spielerisch auf eine autofiktionale Ebene, psychoanalytisch geschult auf eine zwischen Träumen, Sich-Vorgestellt-Haben und Übertreiben.

„Nicht wirklich sicher“ sei sie, schließt sie, genau wie vor fünfundzwanzig Jahren, als für sie mit „Sommerhaus, später“ alles begann. Diese Unsicherheit, wenn man es so nennen will, macht ihre Literatur aus, sie ist ihr Glutkern und wiederum ziemlich sicher ein guter Ausgangspunkt für das weitere Schreiben. Wenn es nach sechs Büchern überhaupt noch eines ultimativen literarischen Reifezeugnisses bedurft hätte, dann ist das „Wir hätten uns alles gesagt“. Bereuen muss Judith Hermann hiernach nichts – höchstens, dass sie zukünftig primär an diesem Buch gemessen wird.

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