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Tijan Sila kam 1981 in Sarajevo zur Welt und emigierte 1994 aus der von Serben belagerten Stadt.

© Christian Werner

Kindheit im Krieg: Tijan Silas Erinnerungsbuch „Radio Sarajevo“

Kein Strom, kein Wasser, kaum Essen – Tijan Sila erzählt in seinem vierten Buch auf bewegende Weise vom Alltag seiner Familie im belagerten Sarajevo zu Beginn der Neunziger.

Ein Rucksack, eine selbstgebaute Schaukel, eine zerfetzte Latein-Grammatik – sie gehören zu den zahlreichen Gegenständen, die im 2017 eröffneten Muzej ratnog djetinstva (Museum der Kriegskindheit) in Sarajevo ausgestellt sind. Es versammelt Dinge, die Kindern und Jugendlichen während des Krieges in Bosnien und Herzegowina wichtig waren. Texttafeln erläutern die Geschichten dahinter, wobei auch immer wieder tote Verwandte und Freund*innen der Kinder zur Sprache kommen.

Ein rotes Taschenradio – das wäre vielleicht der Gegenstand, den der 1981 geborene Tijan Sila dem Museum einmal überlassen könnte. Es spielte eine wichtige Nebenrolle in seinem Buch „Radio Sarajevo“, das keine Genrebezeichnung trägt, von dem er aber in der Anmerkung am Ende schreibt: „Alles, was Sie gelesen haben, ist wahr, ist wirklich passiert.“ Wie ein Dokumentarfilmregisseur habe er Raffungen vorgenommen. Der größte Eingriff: Zwei Jungs – Sead und Rafik – stehen für einen rund 20-köpfigen Freundeskreis. Ein literarisch verdichtetes Erinnerungsbuch also.

Der Autor war zehn Jahre alt, als im April 1992 die Belagerung seiner Geburtsstadt Sarajevo begann. Fast vier Jahre lang beschossen serbische Truppen aus den umliegenden Bergen die Bewohner*innen, die schon bald keinen Strom, kein Wasser, kein Telefon, keine Heizung und nur noch wenig Essen hatten. Auch Informationen und Musik waren Mangelware, weshalb sich Tijan und seine Freunde Sead und Rafik glücklich schätzten, dass sie durch Zufall an ein kleines rotes Radiogerät kommen – und an Batterien. Zwar spielt ihnen Radio Sarajevo, offenbar der einzige Sender, den sie damit empfangen können, zu viel Volksmusik. Aber ab und zu ist auch mal Bon Jovi dabei. Kleine Freuden in einer verwahrlosenden Stadt.

Äußerst anschaulich beschreibt Tijan Sila, der sich in seinem Debüt „Tierchen Unlimited“ 2017 schon einmal mit dieser Zeit befasst hat, was der Krieg in seinem Plattenbauviertel anrichtet. Zu Beginn des serbischen Dauerbeschusses verlagern die Familien ihr Leben zunächst in den Keller ihres Hochhauses, kehren jedoch irgendwann alle zurück in ihre Wohnungen, ein Gewöhnungseffekt setzt ein, man lebt mit dem Risiko – mitunter schießt schon mal ein Projektil durchs Küchenfenster und bleibt funkensprühend im Schnellkochtopf stecken. Da kriecht Tijan dann doch mal unter den Tisch.

Weltkriegswaffen gegen Kampfpanzer

Die Welt des Jungen schrumpft zusammen. Einmal macht er sich auf den Weg zu einem Freund in einer benachbarten Siedlung, was schon einer kleinen Expedition gleichkommt. Unterwegs sieht er Panzersperren aus zusammengeschweißten Stahlträgern. „Sonst war der Asphalt von Müll, Trümmerstücken und Teilen einer aus dem Boden gesprengten Pappel bedeckt – jedoch auch golden überfunkelt, denn die Sonne spiegelte sich im Messing von tausend Patronenhülsen. Ich füllte mir die Hosentaschen mit ihnen: Es waren vor allem ,Fläschchen’ der Kalaschnikow und die langen ,deutschen’ Hülsen von Mauser-Gewehren. Unsere Verteidiger zogen mit Weltkriegswaffen gegen Kampfpanzer ins Feld.“

Tijans Familie – er hat noch einen vierjährigen Bruder – gehört im Viertel zu den Außenseitern, weil die Eltern Akademiker sind. Die Mutter schreibt an ihrer Germanistik-Dissertation, der Vater ist Universitätsprofessor für Bibliothekswissenschaften. Tijan wird trotzdem von den Kids der Nachbarschaft akzeptiert. Dass sein Vater im Krieg nicht an der Front ist, führt allerdings zu Missgunst. Auch die Versorgungsprobleme der Familie nehmen bald überhand. Ohne Muhamed, einen Kindheitsfreund des Vaters, wären sie vor allem in der Anfangszeit verloren gewesen.

„Radio Sarajevo“ ist schnell, packend und episodenhaft erzählt, wobei die Gewalt eine Art Grundrauschen bildet. Wie stark sie den Autor geprägt hat, der heute als Berufsschullehrer in Kaiserslautern lebt, scheint auch in der Wahl seines Pseudonyms auf: Sila ist das bosnische (kroatische, serbische) Wort für Gewalt, das auch Macht und Kraft bedeuten kann.

Den ersten Toten, einen Halbstarken aus der Nachbarschaft, sieht Tijan schon früh. Doch werden die Kinder nicht nur von serbischen Granaten und Kugeln bedroht, auch von der eigenen Umgebung geht Gefahr aus. Zu den schockierendsten Momenten des Buches gehören die wiederkehrenden Erzählungen über die Schläge von Tijans Vater.

Als es nach einigen Monaten wieder Schulunterricht gibt, werden Tijan und seine beiden Freunde auch von ihrem Lehrer malträtiert. Es ist ein 70-jähriger pensionierter Polizist, der ihnen aus den nichtigsten Gründen mit einer Rute auf die Finger haut und Ohrfeigen verteilt. Das Trio schwänzt deshalb bald dauerhaft den Unterricht. Was abenteuerliche Episoden zur Folge hat, in denen gelegentlich auch UN-Soldaten auftreten.

Dass Sila immer wieder Humor in seine Schilderungen mischt, macht sie erträglicher, genau wie die relative Kürze des Buches (176 Seiten). Der einige Jahre ältere Damir Ovčina wählte für seinen 2019 auf Deutsch erschienenen ebenfalls autobiografisch inspirierten Sarajevo-Belagerungsroman „Zwei Jahre Nacht“ (752 Seiten) ein opulenteres und im Ton deutlich härteres Format. Es ist gut, dass der Blick auf dieses dunkle Kapitel europäischer Geschichte nun mehr literarische Tiefenschärfe gewinnt.

„Radio Sarajevo“ vermittelt auch eine erschütternde Ahnung davon, welche psychischen Verheerungen Krieg und Flucht in Familien anrichten. Die jetzigen Kriegskinder aus der Ukraine werden in ihren Büchern einmal Ähnliches zu berichten haben. Das Muzej ratnog djetinstva in Sarajevo hat bereits einige Lieblingsdinge von ukrainischen Jugendlichen in seiner Ausstellung – beim Betrachten merkt man ihre Herkunft aus einem anderen Land zunächst gar nicht – ein Stoffhund, eine Spielzeugpistole, ein Buch.

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