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Theaterkritik: Kopf und Bauch der Republik

Rainald Goetz trifft Franz-Josef Wagner, und Ja, Panik spielen die Musik dazu: Patrick Wengenroths Theatersample „Katarakt/Brief an Deutschland“ in Berlin. Leider gibt es keine befriedigend-gelungene Summe der einzelnen, durchaus gelungenen Teile.

Der eine ist der meistgelesene Prediger der Republik. Seine Gemeinde umfasst Millionen, sein werktägliches Forum ist eine 40-Zeilen-Rubrik in der „Bild“-Zeitung. Hier verkündet Franz-Josef Wagner mal als empörter Moral-Postillion, dann wieder als zartfühlender Porno-Poet, was ihn und somit Deutschland bewegt. Ob Assauers Alzheimer, das nackte Seite-1-Girl oder der Euro-Rettungsschirm.

Der andere ist der Heilsbringer ganzer Generationen von Pop-Literaten. Ein Messias des Rederausches, der sein Blut für sie alle vergossen hat: 1983 in Klagenfurt, als er sich die Stirn mit einer Rasierklinge ritzte. Seitdem spürt Rainald Goetz in seinen weithin verehrten Offenbarungs-Romanen und Blogs so feinnervig wie kein anderer den Hysterien und Überreiztheiten unseres Landes nach. Ob im Nachtleben, im Netz oder im Kultur- und Politbetrieb.

Eine reizvolle Idee, diese beiden komischen Heiligen zusammenzubringen. Sozusagen Kopf und Bauch der literarischen Befindlichkeit zu vereinen, den hyperschlauen Goetz und den Triebmenschen Wagner. „Katarakt / Brief an Deutschland“ hat Regisseur Patrick Wengenroth sein Sample genannt, das einen frühen Theatertext aus dem Goetz-Band „Festung“ mit Wagners Bekenntnis-Büchlein „Brief an Deutschland“ kontrastiert. Wengenroth kennt ja keinerlei Berührungsängste mit großen Köpfen, in seinen überschießenden Satire-Formaten hat er sich zuletzt bis zu Schiller und Nietzsche vorgearbeitet. „Parodie ist Identifikation“, sagt er. Entsprechend lautet sein erster Satz: „Guten Abend, mein Name ist Franz-Josef Wagner“.

Auf der Bühne des HAU 2 stehen ein paar hölzerne Berlin-Insignien, Funkturm, Brandenburger Tor, und dazu lächelt ein überdimensionales Foto des jungen Helmut Kohl. Franz Josef Wagner entführt den Leser in seiner Nabelschau-Prosa „Brief an Deutschland“ aber noch viel weiter in die Vergangenheit. Sie hebt an mit Muttis Flucht aus Mähren und einer entbehrungsreichen Kindheit im darniederliegenden Nachkriegsdeutschland: „3,6 Millionen Wohnungen zerstört“, notiert ein ergriffener Apokalyptiker und schließt schaudernd: „Ich bin aufgewachsen an einem Sarg. In dem Sarg lag Deutschland.“ Man ahnte es irgendwie: Franz-Josef Wagner ist schon zu Lebzeiten die Stimme aus der Gruft.

Patrick Wengenroth und seine Performance-Genossen – Niels Bormann, Vivien Mahler, Verena Unbehaun – haben natürlich keine Mühe, diese Leiden des jungen W. zu verwitzeln. Das Buch entwirft eine kurze Geschichte der BRD in noch knapperen Sätzen, gespiegelt ausschließlich in der Person von Wagner. An dem defilieren die Phantome der Zeit vorbei: von Baader über Bobbele bis zu Boenisch, seinem ersten Chef bei der „Bild“, an dessen Grab der rasende Reporter trauert: „Er gab mir meine erste Gehaltserhöhung“. Das persifliert sich von selbst, inklusive jener selbstmitleidigen Männer-Romantik, zu der FJW neigt. Auch in seiner Kolumne „Post von Wagner“, die viel dankbares Bonus-Material liefert. Kostprobe? „Liebe deutsche Theaterregisseure, auf euren Bühnen wird geschissen, gefurzt, onaniert und Urin getrunken…“ Ach, lassen wir das.

Patrick Wengenroth stöckelt auf Leoparden-High-Heels als halbnackiges Seite-1-Girl über die Bühne. Und die Diskurs-Rocker der Indie-Band „Ja, Panik“ spielen den Live-Soundtrack dazu, unter anderem mit Material ihrer schönen Platte: „Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit“. Aber das alles geht nicht zusammen, bleibt trotz komischer Momente simpel hingestellt. Und befeuert letztlich nur die Vulgär-Meinung, derzufolge „Bild“ und besonders der zynische Demagoge Wagner irgendwie „kultig“ seien.

Und wo bleibt Rainald Goetz bei all dem? Kommt zum Schluss. Wird leider nicht mit Wagner verschnitten, was ja den Reiz ausgemacht hätte: Dass irrlichternde Synapsen von verschiedenen Seiten des Spektrums sich bis zur Ununterscheidbarkeit befeuern. Eine verschenkte Chance. In der letzten Dreiviertelstunde des Zweieinhalbstunden-Abends gehört die Bühne allein der jungen Schauspielerin Eva Löbau, die „Katarakt“ vorträgt. Diesen großen Lebensbilanzmonolog eines nicht näher bezeichneten „Alten“.

Goetz schraubt sich in diesem Text, mit dem er 1993 den Mülheimer Dramatikerpreis gewann, in eine sprachgewaltig gewundene Einerseits-andererseits-Betrachtung von Sex, Moral, Philosophie und dem ganzen Rest. Löbau ist klasse, sie verleiht der galligen, sprachlich herausfordernden Rede eine schwebende Heiterkeit und Unbeschwertheit. Ein bemerkenswertes Phänomen allerdings: In großer Zahl verließen die Zuschauer den Saal, offenbar entnervt von der Komplexität der Goetzschen Hirnwindungen. Damit hat Franz-Josef Wagner diese Konkurrenz der ungleichen Deutschland-Dichter klar für sich entschieden.

Wieder 1. u. 2. April, 20 Uhr im HAU 2.

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