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Mary Ocher ist in Berlin zu Hause und fühlt sich hier doch entwurzelt.

© Pietro Pontieri

Mary Ocher live in Berlin: Harte Bekenntnisse einer Musikerin

Mary Ochers neue Platte versammelt Gedanken zum Weltgeschehen und Persönliches. Und sie schickt einen „Brief an die Humanität“.

Während der Krieg gegen die Ukraine andauert und sich ein neuer entfesselt hat, kommt die in Berlin lebende Musikerin Mary Ocher mit ihrem neuen Album daher und erinnert einen daran, dass es noch weitere Schrecken gibt, die die Menschheit bedrohen. Da wäre einmal der Klimawandel, der keine Pause macht, bloß weil die Öffentlichkeit diesem gerade weniger Aufmerksamkeit schenkt. Und was, wenn Apokalyptiker doch recht haben, und es passieren könnte, dass die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz außer Kontrolle gerät?

Auf Mary Ochers neuer Platte gibt es weniger Gitarre und dafür Synthesizergeblubber und sogar Dance-Beats.

© Boris Eldagsen

All diese Themen und Fragen verhandelt die Musikerin in einem neunseitigen Essay, der auf ihrer Homepage abrufbar ist und in gekürzter Form ihrer Platte „Approaching Singularity: Music for the end of time“ beiliegt. Der Text ist ein eher assoziativ zusammengetragenes Sammelsurium aus Gedanken zum Weltgeschehen, darunter etwa auch zu den Protesten im Iran, verbunden mit den Schilderungen ganz persönlicher Befindlichkeiten.

Man liest von der Trauer über ihren vor kurzem gestorbenen Vater und darüber, dass sie in Berlin zwar ein Zuhause gefunden habe, sich aber trotzdem entwurzelt fühle. Als Quellen vieler ihrer Gedanken nennt sie am Ende eine ganze Reihe von Philosophen, Intellektuellen und KI-Theoretikern, die Namen reichen von Jean Baudrillard über Hannah Arendt bis hin zu Ray Kurzweil.

Wurzeln in Russland, der Ukraine und Israel

Man muss, um Ocher und ihre Platte als musikalisches und theoriebasiertes Gesamtwerk besser verstehen zu können, unbedingt ihre Biografie kennen. Vor ziemlich genau 37 Jahren wurde sie in Moskau geboren. Ihre Eltern sind Juden aus der Ukraine. Mit ihrer Familie zog sie nach Israel und sie besuchte in Tel Aviv eine religiöse Schule. Im Alter von 20 Jahren zog sie nach Berlin, schlug sich erst Jahre lang als Straßenmusikerin mit der Gitarre in der Hand durch, um sich dann zu einer international bekannten Musikerin zu entwickeln. Und gleichzeitig zur feministischen und kapitalismuskritischen Aktivistin.

Allein diese Biographie legt nahe, dass es Ocher gerade innerlich zerreißen muss. Gerne hätte man sich persönlich mit ihr getroffen, um ganz direkt mehr von ihr zu erfahren. Aber ihr Label, das sie selbst betreibt, ließ mitteilen, für solche Interviews sei sie derzeit nicht zu haben. Aber schriftlich würde sie ein paar Fragen beantworten.

So sehr ihr Essay nach einer innerlich extrem aufgewühlten Person klingt, so sehr wundert einen es dann doch, wie aufgeräumt ihre Platte klingt. Keine Aggression oder Wut klingt hier durch, sondern Melancholie. Man glaubt sogar die Aussage herauszuhören: Trotz all des Chaos um einen herum gibt es immer noch Hoffnung.

Die Gitarre hat Ocher bis auf kurze Momente weitgehend weggepackt, stattdessen gibt es viel Synthesizergeblubber und sogar Dance-Beats, zu denen sich mit etwas gutem Willen tanzen lässt. Am markantesten ist Ochers Stimme, die sie in den ziemlich instrumental gehaltenen Nummern gar nicht so oft erhebt. Aber wenn, dann schwebt sie, unterlegt mit allerlei Effekten, gespenstisch über allem.

Statt Wut gibt’s Melancholie

Auf die Frage, wie sich ihr Essay und ihre Musik zueinander verhalten, will sie eine Trennung der beiden Ausdrucksformen nicht gelten lassen. Sie schreibt, alles wirke zugegebenermaßen ziemlich ernst, gleichzeitig aber auch spielerisch. Mit Text und Musik wolle sie „fantasievolle Alternativen“ anbieten und über Entwürfe der Science Fiction reden, die bereits Realitäten geworden seien. Auf die Frage, wie dystopisch man die Botschaften ihrer neuen Platte zu betrachten hat, schreibt sie, tatsächlich sehr skeptisch zu sein, wie es weiter geht mit uns, mit der Menschheit. Und dass es mit der wirklich zu Ende gehen könnte, wenn sie in all ihrer Hybris nicht fähig ist, in bestimmten Dingen endlich umzudenken. Wie aber dieses Ende genau aussehen könnte, darüber könne sie nur spekulieren.

„Offener Brief an die Humanität“

Man ist dann noch neugierig auf ihre Erklärung, wie man das Cover ihrer Platte zu deuten habe. Auf diesem sieht man die Musikerin, wie sie in einem aseptischen Plastikraum einer vaginaförmigen Öffnung entgegenstrebt, als wolle sie eine andere, weibliche Welt betreten. Dazu sagt sie, ihre Interpretation des Covers sei eine andere. Sie erkenne darin Mehrdeutigkeit, Unsicherheit und persönlich müsse sie dabei eher an „Alice im Wunderland“ denken, eines ihrer Lieblingsbücher aus ihrer Kindheit.

Man wird nur mäßig schlauer aus Ochers Antworten bei der Annäherung an ihr neues Album. Geschrieben hat sie Text und Musik während Corona und unter den Eindrücken des Überfalls Russlands, dem Land, in dem sie geboren wurde, auf die Ukraine.

Was sie als Jüdin, die in Israel gelebt hat, zum Krieg in Nahost denkt, dazu schickt sie einem noch einen „Offenen Brief an die Humanität“. Sie schreibt darin erneut von persönlichen Dingen, wie man sie in einem direkten Gespräch wohl nie hätte erfragen können. Davon, wie ihr in ihrer religiösen Schule nahe gelegt wurde, Araber töten zu wollen. Und von einem Trauma, das das Leben in Israel bei ihr ausgelöst habe.

Es sind harte Bekenntnisse einer Musikerin, der klar ist, dass sie mit diesen bei manchen verstörte Reaktionen auslösen wird. Sie bleibt so unbequem, dass es schmerzt, aber ihre Musik klingt trotzdem so, als wolle sie nur eines: Versöhnung.

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