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Im Musikkindergarten an der Leipziger Straße lernen die Kinder nicht nur Instrumente kennen, sondern auch den sozialen Umgang.

© imago stock&people/imago stock&people

Besuch im Musikkindergarten Berlin: Die Welt durch Klänge erleben

Dass Musik Kindern in ihrer Entwicklung hilft, haben schon zahlreiche Studien belegt. Der Musikkindergarten Berlin verfolgt seit 20 Jahren die Mission seines Ideengebers Daniel Barenboim: Bildung durch Musik.

Von Jamin Schneider

Morgens halb zehn in Berlin-Mitte. Ein schüchternes Klavier fängt an zu spielen, ein Gong ertönt und ein Kontrabass gesellt sich gemächlich mit dazu. Kurz darauf ebenfalls mit von der Partie: die rund 90 Kinder, die hier im Musikkindergarten in Berlin durch die bunten Gänge huschen und am alltäglichen Morgenkreis teilnehmen. Sie haben gelernt, einer solchen, akustischen Einladung zu folgen, anstatt, wie in anderen Kindergärten, darauf zu warten, dass ein „Erwachsener“ lautstark durch die Räume marodiert. Hier wartet man lediglich auf das Zeichen der Musik. Eigentlich ganz elegant.

Soziale Kompetenz durch Musik

„Wir haben die Erfahrung gemacht, dass solche akustischen Signale deutlich wirksamer sind, als die lauten Rufe von unserem Personal“, erzählt Nina Braune. Sie ist seit über sechs Jahren für die musikalische Leitung dieses etwas anderen Kindergartens zuständig – und, das merkt man schnell, selbst ein Musikwesen durch und durch. Initiiert wurde der Musikkindergarten von niemand Geringerem als Daniel Barenboim, dem legendären Dirigenten und dem langjährigen Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden, der den Kindern ab und an selbst noch einen Besuch abstattet. Seine Idee: „Nicht Musikerziehung, sondern Bildung durch Musik“.

Wir wollen den Kindern ermöglichen, durch die Musik in Kontakt mit ihren Gefühlen und ihrer Intuition zu treten.

Nina Braune, Leiterin des Musikkindergartens

„Wir verstehen unter Bildung durch Musik, dass den Kindern überall in ihrem Alltag Musik begegnet“, erzählt Braune. Einmal pro Woche kriegen sie auch Besuch von den Musikerinnen und Musikern der Staatskapelle Berlin. „Hier bekommen die Kinder einen Einblick in das Handwerk. Das ist ein schönes Gegengewicht zu dem, was wir pädagogischen Fachkräfte machen, also zur Alltagsmusik“, so Braune.

Zu dieser „Alltagsmusik“ gehören zum Beispiel musikalische Rituale wie der Morgenkreis, das Gestalten musikalischer Übergange zwischen zwei Aktivitäten (wie Bildungsangeboten und dem gemeinsamen Mittagessen) oder auch die Interaktion mit den Kindern: „Das bedeutet, dass wir aufgreifen, was die Kinder musikalisch von sich geben. Oder, dass wir Geräusche und Klänge musikalisch interpretieren, auf sie reagieren, mit einsteigen und Impulse aufgreifen oder zurückgeben.“ Kurzum: Die Welt soll durch Musik erlebt werden.

Frühkindliche Bildung durch Musik ist die Mission von Daniel Barenboim.

© Musikkindergarten Berlin

Und in der Tat: Wer sich im Kindergarten umschaut – und umhört, natürlich – findet sie überall, diese Musik. Sie wuselt, von den Kindern nach Lust und Laune mit den überall zugänglich gelagerten Instrumenten angestimmt, eifrig durch’s Geschehen und ist so steter, melodischer Begleiter im Alltag. Besonders wichtig ist Braune, wie auch Barenboim, die klare Unterscheidung von Bildung durch Musik und musikalischer Früherziehung: „Wir wollen hier nicht die großen Geigenspieler von morgen ausbilden, sondern den Kindern ermöglichen, durch die Musik in Kontakt mit ihren Gefühlen und ihrer Intuition zu treten.“

Und dennoch: „Die allermeisten Kinder bleiben bei der Musik und singen in Chören oder spielen in Bands“, so Braune. Laut einer Hochrechnung, die der Kindergarten vor ein paar Jahren in Auftrag gegeben hat, betätigen sich 83 Prozent der Kinder auch nach dem Besuch des Kindergartens weiter musikalisch.

Die Musik, die uns umgibt

Dass gerade die Musik besonders gut dafür geeignet ist, Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen, liegt in der Art und Weise begründet, wie sie auf das menschliche Gehirn wirkt. Seit einigen Jahren erscheinen immer wieder umfassende Artikel und Fachbücher, die sich mit der beinahe magisch anmutenden Kraft der Musik befassen. Im Musikkindergarten ist man eben dieser Magie bereits seit der Gründung vor fast 20 Jahren auf der Spur. Musik kann nämlich nicht nur mit beinahe bedingungsloser Leichtigkeit in Sekundenschnelle der schlechten Laune den Kampf ansagen, sondern gerade jungen Menschen mit ihren sich noch in der Entwicklung befindenden Gehirnen in verschiedensten Aspekten ihrer Persönlichkeitsbildung spielerisch und nachhaltig unter die Arme greifen.

Musik machen und Musik hören hilft Kindern zum Beispiel dabei, ihre eigenen Gefühle besser zu verstehen, ein Gespür für das sie umgebende, soziale Miteinander zu gewinnen, hält sie an, kreativ mit ihrem Sprachgefühl umzugehen, schult ihre motorischen Fähigkeiten und ist außerdem hilfreich beim Aufbau eines gesunden Selbstbewusstseins. Hierbei handelt es sich nur um eine kleine Auswahl der mannigfaltigen Potenziale, die ein gezielter Einsatz von Musik bei der Erziehung kleiner Kinder bereithält. Im Musikkindergarten werden diese Vorteile selbst für einen mehr oder minder unbeteiligten Beobachter unmittelbar greifbar.

Man merkt, dass es den Kindern mehr sozialen Zusammenhalt und mehr Tiefe gibt.

Nina Braune, Leiterin des Musikkindergartens

Der Morgenkreis etwa ist kein bloßes Zusammenkommen von ein paar Dutzend Individuen, die zufällig hier beisammen sind und daher Raum- und Zeitlichkeit teilen, sondern vielmehr das Zusammenkommen verschiedener Teile eines Organismus, der durch die Musik zusammengefunden hat. „Man merkt, dass es mehr sozialen Zusammenhalt und mehr Tiefe gibt“, erzählt Braune.

Ein ganz normaler Kindergarten

„Die Kinder haben gelernt und sind gewohnt, aufeinander zu hören. Sie wissen, dass die Kraft darin liegt, wenn wir die Dinge miteinander angehen.“ Das sei eine Erfahrung, die man natürlich auf andere Lebensbereiche anwenden könne. „Musik hat immer auch etwas Verbindendes. Wir singen zusammen, feiern zusammen, machen Rhythmus-Spiele oder Klangspiele. Auch das ist Bildung durch Musik.“

Bei all diesen schönen Worten stellt sich eine Frage fast zwingend: warum nicht mehr davon? Wer googelt, findet nur einen Treffer: den Musikkindergarten Berlin. Für Braune ist klar: Musik hat in der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern einfach einen zu geringen Stellenwert. „Und das sollte sich schleunigst ändern. Wir sind ein ganz normaler Kindergarten, vom Senat finanziert, und leben einfach von der Motivation und Hingabe der Erwachsenen. Es gibt eigentlich keinen Haken.“ 

Auch die 75 Euro extra pro Monat, die anfallen für die Pflege und Beschaffung von Instrumenten, zahlen nur die Familien, die es sich leisten können. Denn der Musikkindergarten ist für alle gedacht, nicht nur für eine kleine Elite. Der einzige Haken ist also schlicht und einfach, dass es nur den einen gibt. Anmeldungen gibt es laut Braune nämlich zu deutlich mehr als Plätze. Und das ist bedauerlich, denn nach einem nur kurzen Besuch ist klar: Musik und Kindergarten, das funktioniert zusammen.

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