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Rumpfstück. Der Lange Jammer war einst über 400 Meter lang, seit 2002 steht nur noch das Teilstück am S-Bahnhof Storkower Straße.

© Thilo Rückeis

Berliner Brücken (6): Passage übers Herdenvieh

Hochhausfröhlich in Prenzlauer Berg: Der Lange Jammer ist der Rest der großen Fußgängerbrücke Storkower Straße.

Vom Langen Jammer, der sich über das Gelände des Alten Schlachthof spannte, steht heute nur noch ein kurzes Stück. Es führt vom S-Bahnhof Storkower Straße über die Ringbahngleise zum Storkower Bogen und verbindet Prenzlauer Berg mit Lichtenberg. Eine Akkordeonspielerin sitzt da an einem sonnigen Vormittag und spielt melancholische Weisen, wahrscheinlich aus Russland. Manchmal, wenn Fußgänger sehr energisch auftreten, beginnt die Brücke zu schwingen. Sechzig Soldaten im Gleichschritt können eine Brücke zum Einsturz bringen, Resonanzkatastrophe, ja, ich erinnere mich, Physikunterricht, neunte oder zehnte Klasse.

Die sanierten Plattenhochhäuser an der Storkower Straße tragen ein übertrieben buntes Fassadenkleid in weiß, grün, gelb, dunkelblau und taubenblau. Soll wohl hochhausfröhlich machen. „Fachpflege für Beatmung und Wachkoma, 150m, 1.OG“ ist auf einer Brüstungsreklame an der Brücke zu lesen. Wie aber käme ich als Wachkomapatient dorthin? Für vier Euro gibt es in der „Werksküche“ – ein Aufsteller verrät es – „Gemüseplatte u. Spiegelei u. Kartoffeln“. Im Storkower Bogen lässt sich günstig speisen.

Die Akkordeonspielerin macht eine Pause, vertritt sich die Füße, stampft mit den Sohlen auf. Das Restjammerstück, der kurze Rest des Langen Jammers, gibt eine Idee davon, wie lang diese Fußgängerbrücke war. Sehr lang. 1937 wurde sie gebaut, damit die Leute nicht durch das ehemalige Schlachthofgelände gehen müssen. Da war sie mehr als 400 Meter lang, wurde in den Siebzigern sogar bis zum Fennpfuhl hin erweitert, 2002 dann aber bis auf den 85 Meter langen Teil am S-Bahnhof abgerissen. Auf der Riesenbrache, über die sie einst führte, ist ein Gewerbegebiet entstanden. Zu sehen sind Sconto-Möbel-Sofort, Toom Baumarkt Gartencenter, Kaufland, Shoe 4 you, Mäc-Geiz, Rossmann, Doc Morris, eine Filiale des Dänischen Bettenlagers und Penny. Alles da, umgeben von großen, teils frisch asphaltierten, teils hübsch gepflasterten Parkplätzen. Die Parkplatzarchitekten haben sich sehr viel Mühe gegeben, sie haben sogar Ahornbäume pflanzen lassen. In ein paar Jahren werden die im Sommer größere Schatten und im Herbst noch mehr Blätter auf die parkenden Autos werfen.

In einer der riesigen alten Viehauktionshallen hat ein Fahrradmarkt eröffnet, es wird behauptet, es handele sich um den größten Deutschlands – kleiner geht’s nicht, alles andere wäre verwunderlich. Es gibt eine Indoorfahrradteststrecke, Kinder sind gewöhnlich begeistert.

Von einer anderen Viehhalle blieb nur das gusseiserne Gerüst, das nun wie ein vielfach überdimensioniertes Rosengitter mit Jugendstilornamenten auf der Wiese steht. Es steht da, als warte es auf Bewuchs und Berankung. Es ist das Skelett einer Viehbasilika, hellgrün gestrichen. Schön sieht es aus, wie die in Luft gezeichnete Skizze eines Gebäudes. Eigentlich ist es ja gar nicht da.

Auf einer Bank in der Sonne frage ich mich, ob die Erde wohl noch etwas von den Abermillionen Rindern und Schweinen weiß, die hier für Würste und Braten geschlachtet wurden, bis zum Jahr 1990. Ich lege mein Ohr auf die Wiese, hört sich nicht so an. Kein Nachhall vom Quieken und Muhen und Brüllen, das hier geherrscht haben muss. Zwischen zwei jungen Birken haben Kinder ein menschengroßes Spinnennetz aus Wollfäden geknüpft, ich laufe daran vorbei.

Die Straße hinter dem Birkenhain heißt „Zur Marktflagge“, auf ihrem Bürgersteig stehen DDR-Retrolaternen – die mit den runden Streuscheiben oben. Sie sehen aus wie ein Mensch, der einen flachen Hut trägt. Townhäuschen wurden hier gebaut, eiscremefarben voneinander abgesetzt, Vanille, Mokka, Milchkaffee, Tiramisu. Andere Häuser haben Ziegelaußenwände. „Zur Innung“ heißt die nächste Straße, die Türme des Frankfurter Tors sind in der Ferne auszumachen. Es wird weiter gebaut, Kräne drehen sich, Berlin braucht sicher noch mehr Townhäuser. Auf der anderen Seite der Thaerstraße stehen Wohnblöcke, altes Kopfsteinpflaster liegt auf der Straße, und eine Turnhalle wurde hinter die stehengebliebene Außenwand des „Rinderstall B“ gebaut. Der Stall für ehemals 240 Rinder ist nun Turnhalle für fast genauso viele Kinder.

„Wertanlage!“ verkünden Fassadenplakate mit Ausrufezeichen, es seien noch Eigentumswohnungen zu verkaufen. Vor einer Wohnanlage sind die Müllcontainer in große Gitterkäfige gesperrt. Ja, der Abfall könnte ja gestohlen werden. Bin ich noch in Berlin? Es fühlt sich nicht so an, die Gegend wirkt seltsam unverdichtet. Drehe ich mich, sehe ich in einiger Entfernung die Altbauzeile der Hausburgstraße, Friedrichshain. Ach doch ja, da ist Berlin. Ein hoher alter Wasserturm steht im Gelände, frisch verputzt und rot gestrichen. Vor dem Krieg sei er 18 Meter höher gewesen, steht auf einer Tafel zu lesen. Von oben könnte man ausmachen, wie die Bebauung ausfranst Richtung Landsberger Allee. Es bleibt noch Platz für viele Wertanlagen. Überwucherte Freiflächen und Hallenruinen wechseln sich ab, Pappeln wachsen wild, Müll liegt ohne Käfig in der Landschaft, ausgehöhlte Peitschen-Laternen erinnern an den Sozialismus.

Vorne, gleich an der Landsberger Allee steht eine Viehhalle mit einem grinsenden Terrakottaschwein im Giebel. Und auf den Torsäulen des früheren Eingangs Landsberger Allee stehen links und rechts schmucke steinerne Bären. An der Außenmauer hängt eine Bronzeplatte mit Kartenrelief, „1993–2006 Entwicklungsbereich Alter Schlachthof Berlin“ lese ich da. Die Entwicklung, so sieht es aus, ging also vor sieben Jahren zu Ende. Unter dieser Ewigkeitsgeste, die das Halbfertige feiert, liegt eine tote Taube, daneben ein leerer Pizzakarton. Das Terrakottaschwein im Giebel grinst auf mich herab – ich glaube, es lacht mich aus.

David Wagner erhielt dieses Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse. Der Text ist ein Auszug aus seinem neuen Berlinbuch „Mauer Park“, das im Oktober im Verbrecher-Verlag erscheint.

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