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Die französische Schriftstellerin George Sand (1804-1876), Autorin des Romans François le Champi

© IMAGO/Gemini Collection

Proustbetrieb: Flimmernde Erinnerungskette

Welche Rolle die ländlichen Romane der französischen Schriftstellerin George Sand in Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ spielen, insbesondere „François le Champi“.

Ein Kommentar von Gerrit Bartels

Die Episode mit der in den Tee getunkten Madeleine gehört zu den berühmtesten von Marcel Prousts „Recherche“; die „petite madeleine“, eigentlich ein kleines, oft muschelförmiges Küchlein, ist zum Synonym für Erinnerung geworden: Sie löst beim Erzähler der „Recherche“ die Erinnerungsextasen aus, und ihr folgen im Verlauf der „Suche nach der verlorenen Zeit“ andere Trigger der unwillentlichen Erinnerung wie die Pflastersteine in Venedig, wie die Geräusche eines kleinen Löffels oder eine Baumreihe.

Weniger bekannt ist, dass eng mit der Madeleine-Episode auch die idyllisch-ländlichen Romane der französischen Schriftstellerin George Sand verbunden sind, insbesondere „François le Champi“. Die Mutter des Erzählers liest ihm diesen Roman vor, an seinem Bett sitzend, vor dem Einschlafen, als er noch ein Kind ist. Die Liebesszenen darin lässt sie weg, und er überlässt sich, da die Mutter liest und ausnahmsweise die ganze Nacht bei ihm ist, „ganz der Süße dieser Nacht.“

Der Erzähler im Bibliotheksraum der Guermantes

Sands Roman erzählt die Liebesgeschichte einer Müllerin zu ihrem adoptierten Sohn, einem Findelkind. Als ihr Mann, der Müller stirbt, heiraten Mutter und Sohn. Natürlich schwingt bei der Wahl dieses Romans durch Proust (die Großmutter hatte dem kleinen Marcel vier Sand-Romane geschenkt) das ödipale Verlangen des Erzählers zu seiner Mutter mit. Nicht ganz zufällig heißt Sands Müllerin auch noch Madeleine.

Wesentlicher und gewissermaßen Madeleine-gleich ist am Ende der „Recherche“, im Band „Die wiedergefundene Zeit“, die Wiederbegegnung mit „François le Champi“. Der nun erwachsene, ältliche Erzähler wartet vor der allerletzten „Recherche“-Soirée bei den Guermantes in deren Bibliothekszimmer auf die Erlaubnis zum Eintreten; dabei widmet er sich den kostbaren Bänden dieser Bibliothek und hat auf einmal eine Schmuckausgabe von Sands Roman in der Hand.

Er weiß inzwischen nur zu gut, dass dieser kein besonderer, kein Meisterwerk ist, die „Feder“, aus der er stammt, keine „zauberkräftige“. Aber da er ihn als Kind vorgelesen bekam, übt allein der Titel einen Zauber auf ihn aus.

Marcel wird für Augenblicke wieder zu dem Kind, das er gewesen ist: „Und nun ergab es sich, dass tausend Nichtigkeiten aus Combray , die ich seit langem schon nicht mehr wahrgenommen hatte, von selbst aufflatterten und sich eine nach der anderen in einer unendlich langen, flimmernden Kette von Erinnerungen an die magnetisch gewordene Federspitze hefteten.“

Das Drama des Zubettgehens, mit dem die „Recherche“ beginnt, die Erinnerung an Mutter und Großmutter, an Combray, ja, die ganze verlorene Zeit – all das findet der Erzähler auch mit Hilfe von „François le Champi“ wieder.

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