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Die zerstörten Fenster der Kieler Synagoge, fotografiert  nach der Pogromnacht vom 9. November 1938.

© dpa/Stadtarchiv Kiel

Reichspogromnacht 1938: Augenzeugen berichten vom Terror

Vor 85 Jahren, am 9. November 1938, zündete ein organisierter Mob in ganz Deutschland Synagogen an. Hier erzählen drei Zeitzeugen von den Übergriffen in Berlin.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, vor 85 Jahren, brannten in Deutschland überall Synagogen. Angezündet wurden sie von einem organisierten Mob, der auch jüdische Geschäfte und Wohnungen stürmte. Mindestens 30.000 Juden kamen dabei in Haft, mehrere hundert wurden ermordet. Als Vorwand für die Pogrome diente ein Attentat auf den Legationssekretär Ernst vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris, der am 9. November seinen Verletzungen erlag. (chs)

Inge Deutschkron:

Vom Rath rang eine Woche lang mit dem Tode. In dieser Zeit setzte eine fürchterliche Hetzkampagne gegen das „Weltjudentum“ ein. In riesigen Balkenüberschriften klagten deutsche Zeitungen die Juden aller nur denkbaren Verbrechen an. Sie seien Betrüger, Kriminelle, Diebe, wollten das deutsche Volk vernichten. Sie hätten nun die Maske von ihrem Gesicht gerissen. In jenen Tagen hat zweifellos nicht nur die Mutter des Ernst vom Rath für das Leben ihres Sohnes gebetet. „Wenn der bloß nicht stirbt ...“, so begannen alle Gespräche unter den Berliner Juden. Doch er starb. Das war das Signal zum ersten staatlich organisierten Pogrom in Deutschland.

Und es war gut vorbereitet. Polizeiämter erhielten Tage zuvor Anweisung, Aktionen gegen Juden nicht zu behindern. 20.000 bis 30.000, vornehmlich wohlhabende Juden, sollten festgenommen werden. SA-Männern sollte die Möglichkeit gegeben werden, ungehindert jüdische Geschäfte zu zerstören und durch eine Wache sicherzustellen, dass keine Wertgegenstände zerstört würden. Synagogen würden in Brand gesetzt werden. Häuser von Nichtjuden in unmittelbarer Nähe müssten geschützt werden.

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Am Nachmittag des 9. November 1938 erhielten wir mehrere Anrufe von Freunden, die in aller Eile und mit Angst in der Stimme mitteilten, dass der eine oder der andere ihrer Angehörigen verhaftet worden sei. Im Radio hörten wir von einer „spontanen Volkswut“, die Synagogen angezündet und jüdische Geschäfte zerstört hätte. 200 Synagogen wurden niedergebrannt, 800 Geschäfte zerstört, 7.500 geplündert. Augenzeugen berichteten, dass die Feuerwehr untätig dabeistand und dass die Polizei nicht zu Gunsten eines Juden oder jüdischen Besitzers eingriff. Es klappte alles, wie die Nazi-Behörden es vorgeplant hatten.

Am Morgen des 10. November hatten die Nachrichten sich überschlagen. Auf den Straßen Berlins war die Hölle los. Mit Äxten, Beilen und Knüppeln hatten SA-Männer in der vorangegangenen Nacht die Fensterscheiben der durch ihre Kennzeichnung leicht auszumachenden jüdischen Geschäfte eingeschlagen und eine heillose Zerstörung angerichtet.

Auf dem Kurfürstendamm lagen besudelte Schaufensterpuppen inmitten von Glasscherben. Aus leeren Fensterhöhlen flatterten Kleiderfetzen im Wind. Plünderer hatten das Bild der Zerstörung und der Gewalt noch vervollständigt. In den Geschäften lagen herausgerissene Schubladen, verstreute Wäschestücke, zertrümmerte Möbel, zerschlagenes, zertretenes Porzellan, verbeulte Hüte. Dichte Rauchschwaden hingen über der Fasanenstraße, dort, wo die berühmte Synagoge stand.

Meine Eltern hatten sich von der Zerstörung überzeugen wollen, von der Freunde am Telefon berichtet hatten und waren am frühen Morgen auf die Straße gegangen. Wie versteinert blickten sie auf das angerichtete Unheil. Man sah auch nicht-jüdische Passanten, die verständnislos den Kopf schüttelten angesichts einer derartigen Verwüstung.

(Inge Deutschkron, 1922-2022, überlebte die NS-Zeit in der Illegalität. Ihr Buch „Wir entkamen. Berliner Juden im Untergrund“ erschien bei der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin)

Erich Kästner:

In jener Nacht fuhr ich, im Taxi auf dem Heimweg, den Tauentzien und Kurfürstendamm entlang. Auf beiden Straßenseiten standen Männer und schlugen mit Eisenstangen Schaufenster ein. Überall krachte und splitterte Glas. Es waren SS-Leute, in schwarzen Breeches und hohen Stiefeln, aber in Ziviljacken und mit Hüten. Sie gingen gelassen und systematisch zu Werke.

Jedem schienen vier, fünf Häuserfronten zugeteilt. Sie hoben die Stangen, schlugen mehrmals zu und rückten dann zum nächsten Schaufenster vor. Passanten waren nicht zu sehen. (Erst später, hörte ich am folgenden Tag, seien Barfrauen, Nachtkellner und Straßenmädchen aufgetaucht und hätten die Auslagen geplündert.)

Dreimal ließ ich das Taxi halten. Dreimal wollte ich aussteigen. Dreimal trat ein Kriminalbeamter hinter einem der Bäume hervor und forderte mich energisch auf, im Auto zu bleiben und weiterzufahren. Dreimal erklärte ich, dass ich doch wohl aussteigen könne, wann ich wolle, und das erst recht, wenn sich in aller Öffentlichkeit, gelinde ausgedrückt, Ungebührliches ereigne.

Dreimal hieß es barsch: „Kriminalpolizei!“ Dreimal wurde die Wagentür zugeschlagen. Dreimal fuhren wir weiter. Als ich zum vierten Mal halten wollte, weigerte sich der Chauffeur. „Es hat keinen Zweck“, sagte er, „und außerdem ist es Widerstand gegen die Staatsgewalt!“ Er bremste erst vor meiner Wohnung.

(aus: Erich Kästner: Notabene 45. Ein Tagebuch, © Atrium Verlag, Zürich 1961 und Thomas Kästner)

Toni Lessler:

Ein grauer, nebliger Novembermorgen bricht an; draußen in Grunewald ahnte man noch nichts von den traurigen Dingen, die sich in der Stadt, nein, im ganzen deutschen Reich zu dieser Zeit abspielten. Der erste elektrische Wagen, der etwa 60 Kinder aus der Kurfüstendammgegend zur Schule brachte, kommt an. Zitternd, kaum sprechen könnend vor Erregung, flüstern die Kinder beim Eintritt in die Schule, „die Synagoge in der Fasanenstraße brennt“. „Stille“, ermahne ich sie, „wiederholt das nicht eher, bis ich von meinen Freunden, die in der Fasanenstraße wohnen, telefonisch die Bestätigung erhalte.“

Da kommt der zweite Wagen, der die Kinder aus dem Bayerischen Viertel herausbringt. Gleiches Entsetzen, gleicher Schrecken auf den Gesichtern dieser Schüler. „Die Synagoge in der Prinzregentenstraße brennt“, und im gleichen Augenblick erscheinen die Kinder aus dem Grunewald, die zu Fuß zur Schule kommen konnten.

Sie bestätigen, dass unser lieber, kleiner Tempel in Grunewald in Flammen stehe und dass die Feuerwehr untätig danebenstehe. Die größeren Schüler behaupten, die Bemerkung gehört zu haben: „Sonst mussten wir löschen helfen, heute dürfen wir nicht helfen.“ (…)

Zehn Tage mussten die jüdischen Schulen geschlossen bleiben, bis sich die „Erregung“ in der Bevölkerung gelegt hatte. Man sprach dauernd von der „Volkswut“, die das Vernichten der Gotteshäuser verlangt hatte, aber jeder wusste ganz genau, auf welche Weise diese „Wut“ geschürt wurde.

Nach zehntägiger Pause nahmen wir den Unterricht wieder auf, aber es fehlten viele Kinder. Wer noch mit seiner Familie nur heraus konnte, war auf mögliche und unmögliche Weise verschwunden; nach genauer Statistik stelle ich fest, dass 92 von unseren Vätern der Schüler im Konzentrationslager waren.

Die Behandlung muss furchtbar gewesen sein in diesen Lagern, man hatte sie durchweg in unheizbaren Räumen untergebracht, und die November- und Dezembertage habe manche Opfer gefordert. (…) Besonders hart war es in Dachau bei München, wo mehrere meiner Bekannten „plötzlich“ starben. Ein lieber Verwandter ist dort zu Tode geprügelt worden.

(Die Pädagogin Toni Lessler, 1884-1952, unterrichtete an der Privaten Jüdischen Waldschule Grunewald. Aus: „Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938“. Herausgegeben von Uta Gerhardt und Thomas Karlauf, © Propyläen Verlag, Berlin)

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