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Digitale Rekonstruktion des zerstörten Theaters in Mariupol: Foto: Courtesy of the CST

© Courtesy of the CST

Rekonstruktion des Theaters von Mariupol: Die Seele des Hauses suchen

Eyal Weizman von der Forschungsagentur Forensic Architecture und Maksym Rokmaniko vom Center for Spatial Technologies stellen ihr Computermodell des zerstörten Theaters von Mariupol vor.

In einer der Garderoben war ein behelfsmäßiges Hospital untergebracht, die Requisite diente als Vorratskammer, das Kassenhäuschen als Essensausgabe. Und überall im Haus, vom Keller über die Foyers bis zum Saal, hatten sich Menschen ihre Schlafplätze eingerichtet. Hinter dem heruntergelassenen Eisernen Vorhang stand ein Klavier, auf dem spielte, wer konnte. Und es gab sogar einen behelfsmäßigen Kindergarten in einem der oberen Stockwerke.

Für eine Weile war das Dramatheater in Mariupol wie eigene Stadt, rund tausend Bürger:innen fanden hier Zuflucht vor dem russischen Angriffskrieg. Bis am 16. März 2022 eine Rakete das Gebäude traf und Hunderte von ihnen tötete. Obwohl in großen kyrillischen Lettern das Wort „Kinder“ auf den Vorplatz gemalt worden war.

Durchschossene Geschichte

Ein Kriegsverbrechen, ein Fall für die Gerichte. Aber auch Eyal Weizman und Maksym Rokmaniko befassen sich mit der Geschichte des „Akademischen Dramatheaters des Oblast Donezk“ und seiner Zerstörung bei einem Luftangriff. Weizman ist Gründer der Forschungsagentur Forensic Architecture mit Sitz in London und ihres Berliner Ablegers Forensis. Rokmaniko arbeitet für das Center for Spatial Technologies, das sich mit Forensis die Büroräume teilt.

Gemeinsam haben sie Tausende Fotos, Videos und Social Media-Posts ausgewertet – um ein möglichst originalgetreues Modell des Theaters am Computer entwickeln zu können. Das ist das Arbeitsprinzip der architektonischen Forensiker:innen: Über 3-D-Grafiken und virtuelle Umgebungen rekonstruieren sie die Schauplätze von Menschenrechtsverletzungen – und verorten sie zugleich in größeren Zusammenhängen. „Jedes Projektil“, so Weizman, „durchschlägt Schichten von Historie“.

Rekonstruktion einer Ruine

Ihre Forschungen zu Genoziden, Polizeigewalt, Umweltverbrechen oder den Morden des sogenannten NSU präsentieren vor allem die Rechercheure von Forensic Architecture immer wieder auch im Kontext von Kunst- und Theaterfestivals. Das Projekt von Weizman und Rokmaniko wird im Juni eine Bühne bei Performing Exiles bekommen, dem Festival, das Matthias Lilienthal erstmals für die Berliner Festspiele kuratiert.

Einen Arbeitsstand haben die beiden jetzt aber bereits im Rahmen eines Pre-Events vorgeführt, im Kino des Gropius Baus. Zu sehen war der erste Teil ihres Films „A City within a Building“, der das Dramatheater in Mariupol von allen Seiten beleuchtet, in das Computer-Modell des Hauses führt (dessen Ruine die Russen Ende 2022 endgültig abreißen ließen, nachdem sie zuvor einen hohen Zaun darum gezogen hatten) – und der auch Zeug:innen des Geschehens zu Wort kommen lässt.

Topographien der Erinnerung

Mit etwa 60 Überlebenden des Luftangriffs haben Weizman und Rokmaniko gesprochen, teils in fünfstündigen Sitzungen, um zu rekonstruieren, was sie ein „räumliches Archiv“ nennen. Ein Modell aus Geschichte und Geschichten. Die Arbeit mit der Erinnerung – davon erzählen die beiden in einer begleitenden, hoch spannenden Lecture – ist komplex. Gerade, wenn Traumatisierte ihr Gedächtnis durchforsten sollen.

Forensic Architecture, Forensis und auch das Center for Spatial Technologies konfrontieren die Menschen, die sie befragen, deswegen auch nie direkt mit den erlebten Schrecken. Sondern lassen sie stattdessen in größtmöglicher Sachlichkeit Topographien entwerfen.

Ein Folteropfer wird etwa gebeten, so genau wie möglich die Anordnung der Zellen und die Lage der Flure zu beschreiben – und kommt darüber ins Erzählen von der eigentlichen Gewalt, ohne die Gefahr einer Retraumatisierung. Ähnlich war das Vorgehen im Fall der Überlebenden von Mariupol. Wobei viele, wie Weizman und Rokmaniko berichten, ihre Erinnerungen höchst bereitwillig teilten. Dieses Verbrechen soll bis ins letzte Detail aufgeklärt werden.

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