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Szene aus „Rhino“.

© Foto: Westendfilms

„Rhino“ im Kino: Die ukrainischen Baseballschläger-Jahre

Mit dem Kopf durch die Wand: Oleg Senzows Aufsteigerdrama „Rhino“ ist wuchtig wie seine Titelfigur - und höchst ambivalent.  

Wie die Kindheit vorüberrauscht. Gerade ist Vova (Dmytro Dima) noch ein Junge, rennt draußen durch die Straßen und prügelt sich mit anderen Kindern, da reift er im Zeitraffer auch schon zum Teenager heran. Die Kamera kreist ruhelos durch sein Elternhaus, neun Minuten lang scheinbar ohne Schnitt, während die Jahre verrinnen.

Sein Bruder (Dmytro Lozovskyi) boxt mit Vova, er zieht als Soldat nach Afghanistan, kehrt dekoriert zurück, trifft sich mit anderen jungen Männern und liegt, unmittelbar nach einem Schwenk, aufgebahrt im offenen Sarg. Schwester (Mariia Shtofa) wächst heran, klettert heimlich aus dem Fenster zu einem Jungen, heiratet. Der Vater (Serhiy Smiyan) kommt aus dem Gefängnis zurück, er streitet sich mit der Mutter, wird wieder von der Polizei abgeholt – und Vova immer mittendrin.

Atemlos prescht Oleg Senzows „Rhino“ in dieses Leben hinein. In den ersten Minuten droht sein Film geradezu zu bersten. Kaum hat man durchgeatmet, walzt Vova (jetzt Serhii Filimonov) als junger Mann aus dem Haus heraus. Ein Bulle: die Schultern massiv, der Hals so breit wie der kurzgeschorene Kopf. Kein Wunder, dass er den Spitznamen „Rhino“ bekommt, Nashorn. Ein Dickhäuter, in jedem Sinn des Wortes.

Vova erlebt die post-sowjetische Ukraine der Neunziger, eine Welt der Gewalt. Von den Männern geht Aggression aus, erst in Vovas Elternhaus, dann unter seinen Freunden. Es herrscht ständiger Wettstreit: Wer ist der Stärkere, wer der Mächtigere? Meistens heißt die Antwort: Rhino. Zu seiner Kraft kommt eine urwüchsige Gerissenheit, vor allem aber eine an Wahnsinn grenzende Rücksichtslosigkeit. Auch sich selbst gegenüber. So legt er sich zwar mit den Falschen an, findet aber auch Verbündete im organisierten Verbrechen. Im Eiltempo steigt er immer weiter in der Kleinkriminellen-Hierarchie auf.

Bereits vor zehn Jahren hatte Senzow das Drehbuch zu „Rhino“ geschrieben. Dann marschierten die russischen Streitkräfte auf der Krim ein. Der Regisseur, der zuvor an den Protesten gegen Ex-Präsident Janukowitsch beteiligt gewesen war, unterstützte die vom Festland abgeschnittenen ukrainischen Soldaten, versorgte sie mit Lebensmitteln. Daraufhin nimmt ihn der russische Geheimdienst fest, angeblich wegen Vorbereitung eines Terroranschlags. Er wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Erst internationaler Protest und eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen führen 2019 zu seiner Freilassung. Danach konnte Senzow, Jahrgang 1976, endlich mit den Dreharbeiten zu „Rhino“ beginnen.

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Nach dem Coming-of-Age-Prolog dient die Aufstiegsgeschichte dazu, das Bild einer archaischen Gesellschaft zu zeichnen. Die Behörden sind korrupt, die Männerbünde toxisch, Frauen fungieren lediglich als Spielbälle. Dieser Ursuppe entsteigt folgerichtig eine Figur wie Rhino. Wenn er erpresst, prügelt und tötet, umschwirrt ihn die Handkamera von Bogumil Godfrejów wie ein Komplize. Immer wieder ungeschnittene Einstellungen, ständige Bewegung, und doch bleibt man innerlich auf Distanz zu diesem Grobian. Etwas Anderes will Senzow auch gar nicht.

Für die Titelrolle suchte er unbedingt einen Laien, jemanden, der eine vergleichbare Geschichte mitbringt. Also ließ er 700 Soldaten, Sportler und Ex-Sträflinge vorsprechen, bis er Serhii Filimonov fand. Der macht seine Sache über weite Strecken durchaus überzeugend. Nur den inneren Konflikt, der Rhino in der zweiten Hälfte plagt, nimmt man ihm nicht recht ab. Dafür ist das mimische Repertoire des Debütanten zu begrenzt.

Filimonov ist aber aus anderen Gründen eine befremdliche Wahl. Er diente nicht nur als Soldat im Donbass und auf der Krim, er ist auch in der ukrainischen Neonazi-Szene verwurzelt. So wenig Senzow die Taten Rhinos relativiert – oder ihm ein politisches Motiv unterschiebt –, so fragwürdig bleibt, ob es eine gute Idee ist, einem wie Filimonov, der in den sozialen Medien als rechtsradikaler Influencer wirkt, zu einem derartigen Bekanntheitsgrad zu verhelfen.

Zu allem Überfluss zwingt Senzow „Rhino“ eine moralische Wendung auf. Immer wieder schiebt er zwischen die Szenen, die Vovas Werdegang zeigen, Passagen aus einer filmischen Gegenwart, in der er mit einem Fremden (Evhen Chernykov) im Auto sitzt und sein Leben reflektiert. Rhino hadert mit seiner Schuld, hofft auf Vergebung. Der in Schwarz gekleidete Unbekannte nimmt ihm quasi die Lebensbeichte ab.

Senzow übernimmt die christliche Symbolik zunehmend auch in den Rückblenden. Rhino erlebt Verrat, ihm werden Nägel durch die Füße getrieben, er wird wiedergeboren und letztendlich zum Märtyrer gemacht. Auf dieser Ebene erinnert „Rhino“ an ähnlich gestrickte Gangster-Geschichten (die katholischen Büßerdramen Scorseses, Jacques Audiards „Ein Prophet“), er lässt einen angesichts von Filimonovs Biografie aber auch irritiert zurück.

Senzows Film bleibt, in vielerlei Hinsicht, ambivalent. Seine Gewalt führt in eine in warme Farben getauchte Ukraine ein – ein brachialer Lebensraum, der in den Post-Sowjet-Umbrüchen gerade seine Identität wiederfand. Man sieht heute diese Straßen, Bäume und Häuser und kann sich eines Gedankens nicht erwehren: So wird die Ukraine vielleicht nicht wieder aussehen.

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