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Der Ostbahnhof.in Berlin-Friedrichhain hieß früher Schlesischer Bahnhof.

© picture alliance/dpa

Roman „Berlin Schlesischer Bahnhof“: Franz Biberkopfs Nachkommen

Wiederentdeckung aus der Weimarer Republik: Julius Berstls großartiger Roman „Berlin Schlesischer Bahnhof“ erzählt von gescheiterten Existenzen.

Zuletzt am Horizont doch noch ein Hoffnungsschimmer, immerhin. In 19 kurzen Kapiteln haben die fünf Jugendlichen den mit viel Getöse vor sich hin taumelnden Moloch Berlin durchstreift, haben die Tristesse der an den Folgen der Weltwirtschaftskrise kränkelnden Stadt erlitten, sind im Überlebenskampf gestrauchelt, gestürzt. Zwei hat die Polizei geschnappt, der Naivste, Vertrauensseligste ist sogar zu Tode gekommen.

Einem aber, dem Sonnyboy der zufällig im Wartesaal 3. Klasse des Schlesischen Bahnhofs zusammengewürfelten und bald wieder zerfallenen Gruppe, scheint das Schicksal hold. Gerade noch hockt er in den Trümmern seines jüngsten Lebensplans, als – nun ja – stellvertretender Bürochef eines pleite gegangenen Vorstadttheaters, da lädt ihn einer der Gläubiger, ein mitleidsvoller Buchbindermeister, ein, bei ihm als Lehrling einzutreten, Landsberger Straße, zweiter Hof, Seitengebäude, Kost und Logis frei. „Also, nu mal los – rin ins neue Leben! Land! Land! Und Columbus hatte Amerika entdeckt.“

Der Titel des Romans „Berlin Schlesischer Bahnhof“ von Julius Berstl, in den frühen Dreißigern geschrieben, Ende 1963 in West-Berlin erstmals veröffentlicht, jetzt als literarisches Kleinod wiederentdeckt, muss einer in der Berliner Stadtgeschichte nicht ganz sattelfesten Leserschaft ein Rätsel bleiben. Schlesischer Bahnhof – so hieß von 1881 bis 1950 der Ostbahnhof in Friedrichshain, der in der Endphase der DDR sogar zum Hauptbahnhof erhoben worden war, obwohl er nie das Mondäne, Hauptstädtische etwa des Anhalter Bahnhofs besaß.

In der öffentlichen Wahrnehmung war er 1930, dem Jahr, in dem der Roman spielt, weniger Ausgangspunkt mondäner Reisen wie etwa der Anhalter Bahnhof, vielmehr das Einfallstor für Menschen aus dem armen Osten Deutschlands und Europas, die in Berlin oder sogar jenseits des Atlantiks ihr Glück zu finden hofften. Also meist arme Schlucker, denen ein Wartesaal 3. Klasse schon die ersehnte Möglichkeit des Verschnaufens bedeutete.

Dieser Wartesaal ist das Sammelbecken der an Berlin Gescheiterten – und für die fünf Protagonisten des Romans gleichsam der Knotenpunkt ihrer von dort auseinanderdriftenden, zeitweise parallel laufenden, ganz abbrechenden oder auch zum Ausgangspunkt zurückkehrenden Lebenswege. Es sind Streifzüge durch ein Berlin, dem der Glanz der zwanziger Jahre gründlich abhanden gekommen ist, eine Stadt der Bankrotteure und der Arbeitslosen, eine, in der „eine allgemeine Not der Herzen, eine Verwirrung der Gefühle“ herrscht, mit einem Häusermeer „wie ein Käfig, dem kann man nicht entrinnen“.

Armut, Hunger, Diebstahl, Einbruch, Schlägereien, Prostitution, ja, auch Totschlag aus Eifersucht und ein Lustmord sind die düsteren Erfahrungen, die dieser Käfig für die Halbwüchsigen bereithält, die „dem Typ nach die Nachkommen des Franz Biberkopf“ seien, wie es in der zur Erstveröffentlichung 1963 erschienenen Tagesspiegel-Rezension von Volker Baer hieß. Wobei es sogar, wie zu ergänzen ist, eine Art Gegenstück gibt zu Reinhold, Biberkopfs Versucher: Herr Tölle, Stadtreisender für Nonplusultra-Schokolade Ignaz Silberstein, allzu leutselig und auf verdächtige Weise spendabel, besonders gegenüber entwurzelten und ausgehungerten Jungens.

Expressiv geschilderte Milieus

Es sind aber nicht nur die räumliche Nähe der titelstiftenden Orte und das eindringlich und expressiv geschilderte Milieu, die Berstls Roman mit Alfred Döblins 1929 erschienenem „Berlin Alexanderplatz“ verbinden. Klaus Völker, Theaterhistoriker und ehemals Rektor der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, weist im Nachwort auf die auch stilistische Verwandtschaft der Romane hin.

Berstl sei „offensichtlich stark beeindruckt von den Stilmitteln der Montage“ in „Berlin Alexanderplatz“ und „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos. Immer wieder werden dabei kleinste Realitätsfetzen collagiert, das ergibt einen abgehackt-hektischen Duktus, passend zum damaligen Lebens- und Stadtgefühl.

Jugendliche Underdogs

Zugleich aber nimmt „Berlin Schlesischer Bahnhof“ mit seinem Personal jugendlicher Underdogs Ernst Haffners Roman „Blutsbrüder“ vorweg – 1932 erschienen, im Jahr danach verboten und verbrannt, 80 Jahre später wiederentdeckt, nun ein Bestseller. Haffner, der keinen weiteren Roman veröffentlicht hat und dessen Spur sich nach Hitlers Machtübernahme verlor, dürfte von dem literarischen Vorgänger allerdings kaum gewusst haben, der ja erst Jahrzehnte nach der Niederschrift veröffentlicht wurde.

Das wird ebenfalls an der sich andeutenden braunen Katastrophe gelegen haben, die genauen Hintergründe der Verzögerung wären vermutlich aus Berstls Nachlass zu erschließen, der in der University of Southern California in Los Angeles lagert. Denn obwohl der stadttopografisch sehr präzise Roman noch in Berlin geschrieben wurde, ist er durch das Schicksal des Autors doch der Exilliteratur zuzurechnen.

Im Berlin der zwanziger Jahre war Berstl ein erfolgreicher Dramatiker, Dramaturg und eben auch Romancier, wurde aber 1935 als „Halbjude“ aus dem Reichsverband der Schriftsteller ausgestoßen, durfte nicht mehr publizieren. Im Juli 1936 gelang ihm die Emigration über die Niederlande nach London, wo er für die BBC als Übersetzer und Autor arbeitete. Anfang der fünfziger Jahre zog er nach New York, 1964 ins kalifornische Santa Barbara, wo er 1975 starb.

Zum 85. Geburtstag besuchte ihn dort eine Autorin des Tagesspiegels – und traf in seiner Wohnung auf „ein Stückchen des alten Berlin“: an den Wänden Bilder der großen Berliner Theaterleute und Szenenfotos vergangener Aufführungen, auf der Kommode eine Lehmbruck-Radierung der jungen Elisabeth Bergner, die 1921 in Berstls Erfolgsstück "Der lasterhafte Herr Tschu" ihren ersten Erfolg gefeiert hatte, und im Bücherregal alle seine Romane, darunter sicher auch „Berlin Schlesischer Bahnhof“.

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