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Junge Japanerinnen feiern in Tokio den „Coming of Age Day“.

© picture alliance / dpa

Roman „Stolpertage“: Montag bedeutet, du hast keine Wahl

In Josefine Sonnesons Coming-of-Age-Roman „Stolpertage“ lässt eine Jugendliche ihr altes Leben hinter sich.

Rebellion ist manchmal nur ein Seufzer. Jette kann es nicht ausstehen, wenn sie von ihrer Schwester „Muffel“ genannt wird. Erst recht nicht, wenn er als Ratschlag daherkommt: „Du musst dir nichts gefallen lassen, Muffel, niemals.“ „Jaha“, stöhnt Jette und erwidert: „Du könntest mal aufhören mich Muffel zu nennen zum Beispiel.“

Die Schwester hat es nicht böse gemeint, sie will nur wissen, was Jette vom Umzug hält. Und schaut sie dabei mitleidig von oben an, mit ihrem „Aber-ist- wirklich-alles-okay-Blick“. Jette will nein sagen, denn nichts ist okay, sie will nicht ausziehen. Stattdessen zuckt sie mit den Schultern und antwortet: „Kann ich doch jetzt sowieso nichts gegen machen.“

Ihre Gefühle schluckt sie runter. Sie ist wütend, weil die Schwester, die gerade das Abi macht, ohnehin bald weg sein wird. Und verzweifelt, weil sie das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, verlassen muss. „Ich steck da ganz drin in dem Haus, alles von mir steckt da drin.“

„Stolpertage“ heißt der furiose Debütroman von Josefine Sonneson, der vom Abschiednehmen und Neuanfangen handelt. Jette, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt, zieht mit Mutter und Schwester in eine neue Wohnung. Ohne den Vater, der die Familie schon vorher verlassen hatte.

Und ausgerechnet in den Osterferien, wo man doch auch in den Urlaub fahren könnte. Es gibt viele Coming-of-Age-Romane, aber nur wenige sind so konsequent, verspielt und sprachmächtig aus der Innenperspektive einer Heldin erzählt wie „Stolpertage“.

Weisheit vom Vater

An einer Stelle erinnert sich Jette daran, dass ihr Vater bei ihrer Einschulung sagte: „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens.“ Eine Vater-Weisheit, die sie verwirrt hat, weil sie nicht wusste, ob es eine Drohung oder ein Scherz sein sollte. Wie das ist mit dem Leben und dem Ernst, weiß sie immer noch nicht. Aber sie ahnt: Vielleicht beginnt der Ernst immer erst später, als alle sagen.

Solche spiralförmig verlaufene Gedankengänge, die im Alltag beginnen und im Philosphischen enden, durchziehen den Text. Einige Sätze würde man gern ausschneiden und gerahmt an die Wand hängen: „Montag bedeutet, du hast keine Wahl“; „Manche stecken in ihren Kopfhörern und tauchen ab“; „Mir ist der Grummel von gestern steckengeblieben“.

In Jettes Kopf

Fast glaubt man beim Lesen in Jettes Kopf zu stecken, so präzis sind ihre Beobachtungen und so plastisch die Erinnerungen, die sich mit Grübeleien verbinden. Auf dem Weg zum Schulbus kommt sie an einem Holzzaun vorbei, sie lässt ihre Finger über einen Zaun streifen.

Wobei ein Geräusch „wie umfallende Dominosteine“ entsteht und die Fingerspitzen „ganz glatt und warm“ werden. Sie denkt an den Baum, auf dem sie kletterte, und an die „Bohne“ genannte Nachbarin, die deshalb mit ihr schimpfte. „Sie gehört zu den Leuten, die hobbymäßig Ordnungsamt spielen.“

Disco in der Küche

Jette will „keine Metamorphose“, also auch keinen Umzug, obwohl die neue Wohnung doch „voll im coolen Viertel“ liegt, wie eine Freundin frohlockt. Einmal singt sie zusammen mit dieser Freundin Gloria Gaynors Empowerment-Discohit „I Will Survive“ in der Küche.

Sie benutzen einen Kochlöffel als Mikro und schlagen mit einer Spaghettipackung rhythmisch auf den Tisch, bis die Nudeln nur so fliegen. „First I was afraid, I was petrified. Kept thinking I could never live without you by my side“, gröhlen sie, dann den Refrain: „Oh no, not I! I will surviiive!“.

Bangemachen gilt nicht. Sonneson, die in Hildesheim Literarisches Schreiben studiert, beschreibt die Pubertät als intensive Übergangsphase, in der alle Gewissheiten ins Wanken geraten und die Gefühle Achterbahn fahren. Ein Anker in Jettes Leben ist ihr Großvater. Früher hat er ihr buchstäblich atemberaubende Geschichten erzählt: „Wir hielten die Luft an. Dann stand die Zeit still.“

Nun beginnt er vergesslich zu werden und beginnt Kreiselgespräche, in denen sich alles ständig wiederholt. Weil er Unterstützung braucht, kommt er in ein Pflegeheim. „Hier drinnen steht alles still“, bemerkt Jette bei einem Besuch. Der Opa wartet auf Angehörige, die schon lange tot sind, stellt Fragen, die keiner beantworten kann.

Jette glaubt, dass es gut sei, wenn man vergisst, dass man alleine ist. Weil es sich dann vielleicht so anfühlt, als wäre man es nicht. Stimmt aber nicht. „Das ist unheimlich“, sagt eine Pflegerin. Sie flüstern, damit der Opa es nicht hört.

„Wir stolpern durch die Gegend“, beschreibt Jette ihr Lebensgefühl. Sie packt ihr altes Leben in Umzugskartons und beginnt noch einmal von vorne.

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