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Szene aus der Neuinszenierung von „Aida“ in Verona.

© EnneviFoto

Schneekönigin in der Sommerhitze: Die Festspiele in Verona feiern ihre 100. Ausgabe

Mit Verdis „Aida“ begann die Geschichte der Opernfestspiele in der Arena von Verona. Logisch, dass zum 100. eine neue Inszenierung her muss. Ein Besuch an der Etsch.

Ist es der Wind der Geschichte, der da über die Steinstufen und die erhitzten Wangen weht? Oder einfach nur ein erfrischender Abendhauch nach einem erneut sehr heißen Tag in Verona? So ganz lässt sich das in Italien nie trennen, die Antike ist hier gefühlt bis heute anwesend, Vergangenheit und Gegenwart existieren ganz selbstverständlich neben- und ineinander, das Neue faltet sich ins Alte hinein – besonders natürlich in der Arena, dem großen römischen Amphitheater, einem der besterhaltenen überhaupt und neben dem Fake-Balkon der Julia die größte Sehenswürdigkeit der Stadt. Man gewinnt fast den Eindruck, Verona sei um die Arena herumgebaut worden. Alles hier ist ausgerichtet auf dieses faszinierende Oval, das einer strikten Funktion unterworfen und doch von großer Schönheit ist.  

So erklimmt man denn diese Stufen: keine Ruine, keine Reste von Fundamenten, sondern ein richtiges dreidimensionales Bauwerk der Antike zum Anfassen, und immer noch in Gebrauch! Selbst wenn man hier oben nicht mehr wirklich auf Stein aus dem Jahr 30 n. Chr. sitzen sollte – die Arena wurde seit Jahrhunderten regelmäßig restauriert, das ist ja der Grund, warum sie so gut erhalten ist – gerät das Zeitempfinden an diesem fantastischen Ort doch sehr schnell und auf produktive Weise durcheinander.  

Zumal, wenn auch noch Verdis ägyptische Oper auf dem Programm steht. Ohne Elefanten, Obelisken und Palmen, dafür in einem zeitlosen, kristallinen Schwarz-Weiß-Stil, einer Schneeköniginnenästhetik, die im krassen Gegensatz steht zu den heißen Tagestemperaturen nicht nur am Nil, sondern jeden Sommer immer mehr auch hier, in Norditalien, an der Etsch und am Po.

Erstmals wurde hier 1913 Oper gespielt

Die Festspiele, die zu 60 Prozent von Touristen aus dem Ausland besucht werden (besonders von Deutschen, die gerne abends vom Gardasee rüberdüsen, um sich eine Dosis Kultur zu gönnen), feiern in diesem Jahr 100-Jähriges. Wobei man da aufpassen muss: Erstmals Oper gespielt wurde hier 1913, zu Verdis 100. Geburtstag. Aber zwei Weltkriege und eine Pandemie haben dafür gesorgt, dass das Festival zehnmal ausfiel, so dass 2023 die 100. Ausgabe stattfindet. Und noch mehr runde Zahlen: Auch der 100. Geburtstag von Maria Callas, die schon früh in Verona debütierte und hier immer wieder große Erfolge feierte, wird in diesem Jahr begangen.  

Der neue Regisseur heißt Stefano Poda

Neben der Callas war und ist eine andere Dame quasi Hauskönigin hier: eben Aida. Mit diesem Stück ging es 1913 los, und viele Jahre hat die Regiehandschrift Franco Zefirellis mit seinen massentauglichen Prunk-Historisierungen die Ästhetik nicht nur dieser Oper, sondern vieler anderer Inszenierungen in Verona geprägt. Das ist in diesem Jahr anders: Stefano Poda heißt der neue Regisseur, der Bühnenbild, Kostüme und Choreographie aus einer Hand macht. Eine „Hommage an den Menschen“, eine „Brücke zwischen den Urahnen und der Zukunft“ soll diese „Aida“ sein, hatte er vor einigen Wochen erklärt, bei der Vorstellung der Jubiläums-Festspielsaison in der Italienischen Botschaft im Berliner Tiergartenviertel. 

Große Worte, die ein Besuch der Inszenierung nur bedingt einlöst. Natürlich auch, weil sie viel zu plakativ formuliert sind und damit eigentlich immer – also nie – passen. Dennoch wird man Zeuge eines in sich stimmigen Opernprojekts. Poda wuchtet eine kalt glitzernde Alien-Welt auf die Bühne, die der Fantasie eines H.R. Giger entsprungen sein könnte. Ein striktes Farbregiment beherrscht die Szene, anfangs gibt es praktisch nur Schwarz und Weiß, später kommt Rot hinzu, jede neue Farbe ist ein Ereignis, und immer entsteht daraus ein großer, einheitlicher Menschenblock. In der Arena muss man klotzen, nicht kleckern.

Eine Fliegerstaffel über der Arena zur Eröffnung der Festspiele am 16. Juni.

© EnneviFoto

Die besiegten Äthiopier kriechen wie Gewürm aus dem Boden, riesige Scheinwerfer bilden ansatzweise eine Pyramide, über deren Spitze ein mysteriöser silberner Ball schwebt. Prägnanteste Kulisse sind die fünf Finger aus Drahtgestell, die sich öffnen, schließen, zur Faust ballen, bedrohen, befächern oder beschützen – immerhin hier wird es konkret, hatte Poda doch bei seinem Besuch in Berlin den Menschen beschrieben als ein Wesen, das „liebt, streichelt, tötet, zerstört, alles mit seiner Hand.“ 

Erbarmungslose Staatlichkeit

Was der Regisseur gut hinkriegt: den für „Aida“ so charakteristischen Wechsel von intimen Szenen und pompösen Massenauftritten, in denen sich eine erbarmungslose Staatlichkeit inszeniert, die jegliche Liebe zerquetscht. Völlig unmöglich hingegen der große Nebelgenerator, der nahezu unablässig brummt. Ja, die 2000-jährige Akustik der Arena funktioniert gut, aber vor so einem Lärm muss sie doch kapitulieren. Überhaupt: Was sagt das über den Regisseur aus, wenn er denkt, auf solche Hilfsmittel angewiesen zu sein, um ein bisschen Mystik herbeizuzaubern? 

Yusif Eyvazov ist nicht nur Radamés (und zwei Tage vorher der Herzog von Mantua in „Rigoletto“), sondern auch ein Fels von Tenor, seine machtvolle Stimme hat keine Mühe, allen Widrigkeiten zum Trotz ans Ohr zu dringen. Die Titelrolle hat bei der Premiere im Juni seine Gattin Anna Netrebko gesungen, jetzt wird sie abgelöst von María José Siri – die Uruguayerin, die die Rolle der Aida auch in Bregenz verkörpert hat, schlägt sich wacker. Olesya Petrova singt eine wandlungsfähige Pharaonentochter Amneris: erst eifersuchtszerfressenen Furie, mutiert sie später zur reflektierten, bereuenden, einsamen Frau. Dirigent Marco Armiliato hat Episches zu leisten, muss er doch Hunderte von Chorsängern und Statisten in einem riesigen Rund koordinieren und dabei das Orchester noch zu zügigem, prägnanten Spiel anfeuern. 

Wem Podas Inszenierung doch etwas zu modern ist: Die Saison läuft noch bis zum 9. September, und von dem 2019 verstorbenen Zefirelli sind noch die Inszenierungen von „La Traviata“ und „Madama Butterfly“ im Programm. An diesem Sonntag, 23. Juli, gibt Tenor Juan Diego Floréz sein Arena-Debüt mit einem Galaabend. Ein anderer war schon oft hier seit seinem Debüt 1969: Plácido Domingo soll am 6. August in Verona auftreten.

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