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Die Sopranistin Liv Redpath am 25. Januar 2024 beim Konzert mit den Berliner Philharmonikern 

© Stephan Rabold

Schönberg-Abend in der Philharmonie: Ein zartes Monster

Kirill Petrenko, die Philharmoniker und der Rundfunkchor Berlin bringen Arnold Schönbergs Oratorium-Fragment „Die Jakobsleiter“ auf die Bühne. Eine Wagnis, eine wundersame Überforderung.

Was für ein Monster, was für ein zartes Monster von einem Werk: Die Philharmoniker, der Rundfunkchor Berlin und sieben Solist:innen drängeln sich auf dem Podium des Scharounbaus. Vier Fernorchester und ein Kammerchor kommen hinzu, rechts und links hinter Block G, auf dem sogenannten Turm, in den allerobersten Terrassenrängen, und im spitzen Winkel hoch oben hinter Block C.

230 Mitwirkende zählt Arnold Schönbergs Oratoriums-Torso „Die Jakobsleiter“ bei dieser Aufführung, außer Kirill Petrenko heben vier Ferndirigenten den Taktstock. Dennoch wird hier kein lautstarkes Manifest verkündet, sondern ein feines, tönernes Netz durch den gesamten Saal gewoben. Von allen Seiten klingt und singt es, das Publikum ist von Schönbergs Transzendenz-Vision förmlich umhüllt.

Vom Rang über der Ehrenloge knapp unter dem geschwungenen Dach der Weinbergsarchitektur steigt Jasmin Delfs Sopran himmelwärts. Ganz alleine singt sie am Ende, in weiten, eleganten Intervallsprüngen, in höchsten, makellosen Tönen. So spinnt sie den gleichermaßen engelsgleichen Gesang von Liv Redpath unten auf dem Podium fort, körperlose Musik, die alles Irdische abgestreift hat.

Was für ein Schluss, nach 45 Minuten Wagnis und wundersamer Überforderung. Der Erzengel Gabriel mahnt die Seelen zur Gottesfurcht. Kleinere Grüppchen – der mal flüsternde, sprechsingende, mal zu Tumulten sich steigernde Rundfunkchor – fallen einander ins Wort, von den „Unzufriedenen“ über die „Zweifelnden“ bis zu den „Sanftergebenen“. Aber bevor man darüber nachdenken kann, welcher Gruppe man vielleicht selbst angehört, hat die Musik sich weiter entgrenzt. Weniger in kühner Harmonik, wie im ersten Konzertteil bei Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1, als in knappen Szenenwechseln und Kurzauftritten etwa eines Mönchs, einer Sterbenden oder des Auserwählten, der Schönbergs eigene, nicht ganz uneitle Kunstreligion artikuliert: „Mein Wort lass ich hier/ müht euch damit!“ Die Solisten, vor allem Wolfgang Koch, Daniel Behle und Johannes Martin Kränzle, animiert Petrenko zu opernhafter Deklamatorik, schließlich hegte Schönberg zeitweise auch Pläne zu einem Musikdrama.  

Petrenko muss die Zügel fest in der Hand halten, denn die Vielstimmigkeit dieser rastlosen, weniger frommen als mystisch-verklärenden Klangrede lässt sich kaum mit zwei Ohren erfassen. Schönberg wurde ja selber nicht fertig mit seinem Oratorium, das Jakobs Traum von der Himmelsleiter voller wandelnder Engel schildert, inspiriert von der Genesis, einer Strindberg-Erzählung und Balzacs Roman „Séraphita“.

Eigentlich wollte er Richard Dehmel als Textdichter gewinnen (und Adolf Loos als Bühnenbildner für eine szenische Aufführung), dichtete dann aber selbst die expressionistischen, teils durchaus kruden Verse und komponierte zwischen 1915 und 1922 den ersten Teil. Bis zum „Großen symphonischen Zwischenspiel“, das nun als Schlussstück fungiert. Nach seinem Tod 1951 arbeitete Schönbergs Schüler Winfried Zillig das Particell aus.   

Der Erste Weltkrieg, Antisemitismus, Europa im Umbruch – und wie hältst du‘s mit Gott?  Schönberg war zum Protestantismus konvertiert; nach einem antisemitischen Vorfall 1921 in der Sommerfrische in Mattsee, wo er wie die anderen Juden ausgewiesen wurde, begann er, sich auf sein Judentum zu besinnen. 1933 trat er wieder in seine Religionsgemeinschaft ein. Auch von diesem Ringen, den Anfeindungen, dem Hass, der Erschöpfung und der Utopie des Entkommens erzählt „Die Jakobsleiter“.

Am Ende – eine Frau singt alleine – schließt sich der Kreis. Denn bereits in der Kammersymphonie von 1906 befreite Schönberg die Musik vom Kollektiv, geht in diesem Geflecht der Einzelstimmen doch jeder seinen eigenen Weg. Fünfzehn primi inter pares: Zum Applaus schüttelt Kirill Petrenko denn auch jedem einzeln dankend die Hand.

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