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Die englische Schriftstellerin und Professorin für Kreatives Schreiben Bernardine Evaristo. Sie wurde 1959 in London geboren.

© Jennie Scott/Tropen Verlag

„Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo: Verse für eine abgekürzte Welt

Zwölfstimmig: Bernardine Evaristo erzählt vom Leben schwarzer Frauen in England.

Ein Satz ohne Ende – „es war ihr schwergefallen, auf so viel Geschichte zu schlafen“ – und ohne Anfang. Er steht in Bernardine Evaristos ohne Punkte auskommenden Roman „Mädchen, Frau etc.“, der 2019 den Booker-Preis gewann und nun als erstes von Evaristos Büchern auf Deutsch erscheint. (Aus dem Englischen von Tanja Handels. Tropen Verlag, Stuttgart 2021.512 S., 25 €.)

Grace, die Frau mit den Schlafproblemen und eine von zwölf Hauptfiguren, lebt in den 1920er Jahren im Norden Englands. Sie ist dankbar, dass ihrem Mann ihre Hautfarbe egal zu sein scheint.

In seiner Bekundung, sie sei „seine Expedition nach Afrika“, hört sie nur Bettgeflüster.

Nach der Hochzeit schlafen die Eheleute eine Weile auf einer Matratze, die sich schon im Besitz von Grace’ Schwiegergroßeltern befunden hat. Der oben zitierte Satz fällt, als eine neue Matratze den Muff der Vergangenheit verdrängen soll. Grace weiß nicht, dass ihre Schwiegerfamilie einst „Menschen aus Afrika in der Karibik gegen Zucker eintauschte“ ihr Unbehagen ist Körperekel.

Allein die Bezeichnung 'Schwarzer Intellektueller' nagt schon an ihm

Auch auf geschichtsbefreiter Bettung wird das Paar nicht glücklich. Er will einen Sohn. Sie zerbricht an ihrem „Körper, der nur Tod gebar“. Dann eine Tochter, Hattie, die überlebt. Diese hat das Familiengeheimnis im vorigen Kapitel wiederum erst als betagte Frau gelüftet – und ein weiteres für sich behalten. Mit 14 hat die jetzt 93-jährige Hattie eine Tochter geboren, die sie auf den Druck ihrer Eltern zur Adoption freigeben musste. In einem anderen Kapitel wird diese Geschichte erzählt, aus der Perspektive von Hatties Tochter, Grace’ Enkelin.

Die Staffelung ist typisch für Evaristos kunstvoll arrangierte Suite, die formal einem Versroman ähnelt, sich aber flüssig liest wie Prosa. Die vier Hauptkapitel sind in je drei Abschnitte geteilt, deren Protagonistinnen einander durch Familienbande, Arbeit, Freund- oder Partnerschaft verbunden sind. Manche Beziehungen sind identitätsstiftend, manche nur biografisches Beiwerk. In diesem Zwölfklang, der meist schwarze, oft lesbische Frauen im England der Gegenwart porträtiert, steht Grace stellvertretend für eine ungeklärte Vergangenheit, die viele der Figuren umtreibt.

Wobei es so eine Sache ist mit der Stellvertretung in „Mädchen, Frau etc.“ Evaristo, 1959 in London geboren und dort Professorin für Kreatives Schreiben, weist auf den Fallstrick hin, ein Leben als zu illustrativ für das Wesen einer Gruppe zu lesen: „was soll er sich die Repräsentationslast aufbürden“, fragt im Roman ein Professor, der zu seiner Irritation ständig Redebeiträge zum Thema Rassismus liefern soll, „allein die Bezeichnung ‚Schwarzer Intellektueller‘ nagt schon an ihm“.

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Eine aus Barbados stammende Figur, von ihrer Tochter als Pionierin schwarzen Lebens in Großbritannien gepriesen, erwidert: „wir waren bloß zwei Leute, die ausgewandert sind, Rachel, da ist nichts Vorreiterisches dran“. Als Exempel zu leben, ist immer auch ein wenig Selbstaufgabe.

Kurzweilige Erzählstruktur

Ähnliches gilt für die Rezeption von „Mädchen, Frau etc.“ Evaristo ist die erste schwarze Booker-Laureatin überhaupt und schlägt sich nun mit der Publikumserwartung herum, Sprecherin für eine britische black experience zu sein. Evaristo hat sich um dieses Anliegen längst verdient gemacht – 1982 war sie Mitgründerin der landesweit ersten Theaterkompanie für schwarze Frauen.

Doch tut man dem Roman keinen Gefallen mit solchen Universalmaßstäben; „von Weißen verlangt doch auch keiner, dass sie nicht nur sich selbst repräsentieren, sondern eine komplette ethnische Gruppe“, denkt im Buch der Professor.

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Die Dramatikerin Amma verfällt nach einer glanzvollen Premiere am prestigereichen Londoner National Theatre in Trübsal, weil sie befürchtet, sie müsse künftig „trotzdem noch verzweifelt nach Jobs suchen und werde einfach nur noch öfter für Podien angefragt, bei denen es um Diversität am Theater geht“.

Die Figuren dieses plotlosen Romans versammeln sich um keinen Tisch, erstreben kein gemeinsames politisches Ziel. Die Stärke des Buches liegt darin, dass jedes Kapitel vollkommen in der Psyche der Protagonistin abtaucht. Selbst nach dem zehnten Perspektivwechsel folgt man Evaristo noch mühelos.

Die kurzweilige Erzählstruktur lässt auch verschmerzen, dass einige Figuren etwas stereotyp sind, etwa Nzinga, „abstinente, vegane, nichtrauchende, radikalfeministische, separatistische Lesbe und Bauarbeiterin“, die schwarze Fußmatten für rassistisch hält.

Im Original heißt das Buch "Girl,Woman, Other"

Einerseits ist da also ein linksakademisches Woke-Milieu, in dem – Prof. Evaristo karikiert hier liebevoll – zu „Interrelationen und Ästhetiken des Hip-Hop und der Rassenpolitik der Achtzigerjahre“ promoviert wird und Diskriminierung „in fünf Kategorien“ stattfindet. Da ist aber auch eine Lehrerin, in deren Augen staatliche Schulen „ein multikultureller Zoo“ sind, „mit Kindern aus Ländern, die nicht einmal ein Wort für bitte oder danke hatten“.

Die Schluchten dazwischen scheinen unüberbrückbar. Evaristo überquert sie spielerisch und ohne Rücksicht auf Symmetrie. In der deutschen Fassung wird dabei manchmal überdeutlich, dass „Mädchen, Frau etc.“ nicht nur sprachlich ein sehr englisches Buch ist. Das liegt weniger an Tanja Handels’ verdienstvoller Übersetzung als an den alltagssprachlichen, mithin sozialen Gegebenheiten.

Das englische „biracial“ klingt als zwar entschärftes „bi-ethnisch“ doch etwas hölzern und kulturwissenschaftlich. Das geschlechtsflexible Pronomen „sier“, mit dem die Hauptfigur des Kapitels „Megan/Morgan“ sich identifiziert, ist viel fremder und behelfsmäßiger als das englische „they“. Die gefühlte Intensität des Eingriffs in die Standardsprache sagt wiederum Einiges über die jeweilige nationale Befindlichkeit.

Ein kleiner Coup ist der Übersetzerin und dem Verlag hingegen im Titel gelungen. Im Original heißt der Roman „Girl, Woman, Other“. Die behutsame Abwandlung verleiht der deutschen Ausgabe nicht nur eine hübsche Metrik, sie deponiert auch eine ironische Poesie in den Nischen dieser m/w/d-Welt, deren Sprache sich noch sträubt.

Sie ist ein betont beiläufiger Kategorienwurf für eine Gesellschaft, die vielen nur widerwillig offenbart, wer sie sind oder sein dürfen. Nicht zuletzt ist das „etc.“ ein Transparenzhinweis: Wir leben in Abkürzungen, und natürlich ist auch jeder Roman, mag er zwölfstimmig sein, abgekürzte Realität. Man liest gern, was dieser zu sagen hat über Liebe, Trauer, Lust, Wut, England, Gender usw.

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