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Sommerzeit ist Lesezeit. Wie hier am Landwehrkanal.

© Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa

Literaturkolumne "Fundstücke": Was im Kopf entsteht

Ein reizvoll illustrierter Band vereint Textauszüge mit Bildern vom Lesen, ein Schreibheft von Paul Auster versammelt Anekdoten und Kurzgeschichten des Autors.

Sommerferienzeit ist Bade- und Lesezeit. Erfrischung für Körper und Geist. Das gilt auch in der Daddel-Ära, zu der mir gerne ein Satz des bayrischen Arztes, Liedermachers und Buchautors Georg Ringsgwandl einfällt: „Die wesentlichen Dinge passieren noch immer analog.“ Er meinte Leben, Lieben, Sterben und gewiss auch das Lesen. Zumindest das Lesen von Literatur.

So passt in die Jahreszeit ein reizvoll illustrierter Band, den Cathrin Klingsöhr-Leroy, die Direktorin des Franz Marc Museums im oberbayrischen Kochel, zu der noch bis 23. September laufenden gleichnamigen Ausstellung unter dem Titel „Lektüre. Bilder vom Lesen – Vom Lesen der Bilder“ zusammengestellt hat (Schirmer/Mosel Verlag, München, 172 Seiten, 39, 90 €). Das Spektrum der Bilder reicht dabei von der in ein prunkvolles orientalisches Gewand auf einem westöstlichen Diwan in die Buchlektüre versunkenen Unbekannten des Genfer Malers Jean-Etienne Liotard (um 1750) bis zu den schönen Bibliotheks-Aufnahmen der Fotokünstlerin Candida Höfer.

Picasso malt seine Geliebte, intensiv über ein Buch gebeugt

Renoir porträtiert seine Töchter in provenzalischen Gärten bei der Sommerlektüre, Max Beckmann aquarelliert ganz hinreißend zwei ihrerseits von einem Journal hingerissene Mädchen, Lovis Corinth oder Gabriele Münter sehen ihre männlichen Zeitungsleser elegant konzentriert, Paul Klee lässt aus einem „Literarischen Klavier“ die Lettern und Formen wie Noten springen und Cy Twomblys Zeichensprache wird zur Schrift auf Leinwand. Picasso malt seine Geliebte Françoise Gilot 1953, an einem Tisch intensiv über ein Buch gebeugt. Sie wirkt ganz bei sich – doch neben ihrem weißen Gesicht erscheint ein blaues Zweitgesicht, und man kann sinnieren, ob das Antlitz des anderen Ichs nicht das innere Gesicht der Leserin ist. Weil sich die Geschichten (und die Gesichte) eines Buchs in den Köpfen der Lesenden variieren, vervielfachen, weiterschreiben.

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Wie eine ironische Pointe erweisen sich dazu eine Schwarz-Weiß-Fotografie von Henri Cartier-Bresson und eine Farbzeichnung von Rosemarie Trockel, die jeweils nur Beine und Unterleib einer Leserin zeigen und als Blickfang ein aufgeschlagenes Buch in ihrem Schoß. Man kann beide Bilder erotisch lesen, aber auch als intellektuelles Spiel. Denn die ausgesparten Köpfe bedeuten nicht, dass die Leserinnen kopflos seien. Vielmehr malt sich der Betrachter fast unwillkürlich einen (seinen, ihren) ganz eigenen Kopf dazu aus – ergänzt also das Bild und lässt es in der inneren Imagination weiterwachsen, gleich dem Leser oder der Leserin einer literarischen Figurenskizze.

Eine kleine Sammlung biografischer Erschütterungen

Wer diesen Zauber von Bild und Inbild vertiefen will, dem bieten vor allem einige Auszüge von Marcel Proust, Walter Benjamin, Jean-Paul Sartre oder Vladimir Nabokov Stoff zur Kunst des Lesens und zum anstiftenden Eigensinn der schriftstellerischen Erinnerung und Erfindung. Das sind keine richtig raren Texte, aber es macht wiederum Freude, in den beigefügten Illustrationen zu blättern: etwa in den Faksimiles von Prousts Manuskript für „Sur la lecture“ („Tage des Lesens“), in das er kokette Strichmännchen hineingekritzelt hat. Oder in Benjamins „Leseliste“, einem Schreibheft mit hunderten akribisch notierten Buchtiteln.

Ein hübsch gebundenes und gedrucktes Schreibheft ist auch Paul Austers „Rotes Notizbuch“, das 1995 in den USA erschien und jetzt erstmals vollständig auf Deutsch vorliegt (übersetzt von Werner Schmitz, Rowohlt Verlag, 109 Seiten, 15 €). Die hier versammelten Anekdoten und Kurzgeschichten ergeben den Autor Paul Auster in nuce: Erlebtes, Erfahrenes, Erfundenes, eine kleine Sammlung (biografischer) Erschütterungen und Erkenntnisse über die Macht des Zufalls und Einfalls. Inbilder und Sinnbilder sind sie auch für Antworten auf die in einem Text gestellte Frage „Warum schreiben?“ Auster sagt, er habe immer einen Stift und Papier bei sich, seit er als Junge unverhofft seinem Baseballidol von den New York Giants begegnete und sie beide in diesem Schicksalsmoment nichts zu schreiben bei sich hatten. So wurde aus dem entgangenen Autogramm Austers eigenes Schreiben. Und hier ein Buch, das in jede Strandtasche passt.

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