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Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Markus Söder haut gerne auf die Pauke.

© dpa/Peter Kneffel

Wenn Vokabular apokalyptisch wird: Warum Mücken, wenn es Elefanten gibt?

Übertreibung als beliebtes Mittel politischer Kommunikation - und was öffentlich-rechtlicher Journalismus dagegen ausrichten kann

Von Norbert Schneider

Die Übertreibung ist als sprachliches Mittel für die menschliche Kommunikation schier unverzichtbar. Sie funktioniert wie ein Leuchtturm - man sieht sie lange, bevor man die Küste sieht. Sie schmückt den alltäglichen Sprachgebrauch (Ein irrer Typ!). Sie spielt eine wichtige Rolle in literarischen Genres (Dies ist der Herbst, der bricht Dir noch das Herz!). Die Übertreibung unterhält.  Die Produktwerbung bliebe ohne sie vermutlich wirkungslos. Also spricht der Makler von lichtdurchfluteten Räumen, und der Autohändler von der sportlich selbstbewussten Präsenz eines SUV. Die Aufmerksamkeit möglichst vieler Kunden soll geweckt werden, damit sie das Produkt kaufen. Der Adressat kann später nachprüfen, ob stimmt, was er hört oder sieht. Er kann das Produkt anfassen.

Marktschreier als Vorfahre

Ein Vorfahre dieser Redens-Art ist der Marktschreier. Während er schreit, zwinkert er mit mindestens einem Auge. Ein anderer Vorfahre der Übertreiber ist der antike Gerichtsredner. Ihm reichen nicht Fakten, die jeder kennt.  Er steigert die evidentia (Quintilian). Man muss seiner Rede, wie auch anderen immateriellen Gütern, glauben. Denn den Gehalt an Wirklichkeit nachzuprüfen, ist schwierig. Und der Gerichtsredner zwinkert nicht. Er meint es todernst.  So wird manche Übertreibung zur kleinen Schwester der Lüge.

Zu den Nachfolgerinnen der antiken Gerichtsrede gehört die politische Rede. Auch sie setzt auf die nicht nachprüfbare Übertreibung. Zuletzt mehr denn je. Und dafür gibt es Gründe.  In einer Ampel will jede Farbe die hellste sein. Also wird übertrieben. Und zu einer Zeitenwende gehört auch eine Redewende. Sie macht aus Mücken Elefanten. Zwei Fehltritte reichen für einen Rücktritt.

Das Ungewöhnliche heißt neuerdings Skandal, vielleicht sogar Katastrophe. Hoch im Kurs stehen die knappen imperativen Superlative. Sie funktionieren wie eine mit Worten geladene Schrotflinte. Eine der vielen Kugeln trifft immer ins Schwarze: Zu früh! Zu spät! Zu wenig! Zu viel! Zu langsam! Zu schnell!  Solche übertreibenden Behauptungen sind immer richtig, solange niemand sagen kann, was wirklich richtig ist.

Apokalyptisches Vokabular bringt, die Realität final überbietend, den jüngsten Tag ins Spiel. In der failed city Berlin, in der man eine Missachtung der Demokratie beobachtet, scheint er schon angebrochen zu sein. Vielleicht als Folge eines Kriegsrauschs? Gerüchte, unreife, realitätsschwache Informationen (Krach/Funkstille zwischen Lindner und Habeck) erlauben phantastische Behauptungen. Sie sind nie richtig wahr, aber immer wirksam.

Die staatstragende politische Rhetorik bringt, übertrieben gesprochen, schweres Geschütz in Stellung. Dann geht es um Deutschland! Um die nationale Sicherheit! Um die Wahrheit! Und neuerdings um die westlichen Werte. Die Brüsseler Spitzen erklären die Ukraine derweil zum Herzen Europas.  

Geht’s noch?

Man fragt sich, neudeutsch: Geht’s noch! Geht’s nicht eine Nummer kleiner? Kleiner schon, doch auch dann am besten bei Twitter. Die vorgegebene Kürze zwingt zur Zuspitzung. Also überbieten sich die Tweets nach Art der Melnyk-Rhetorik im polemischen Übertreiben durch Überbieten. Dabei überleben nur These und Antithese, Pazifisten oder Bellizisten. Den leeren Platz der Synthese füllen Querdenker und Verschwörungstheoretiker mit ihren Phantasien.

Speziell die Kriegsrhetorik bezieht ihre überredende Kraft aus dem Bad in heißen Emotionen. Dann verkündet sie: Der Leopard ist befreit. Alle Kriegsparteien verhüllen die Realität mit Propaganda. Schönreden ist eine eigene Waffengattung. Die Wirklichkeit des Krieges, das Gemetzel wird schöngeredet zu einem heiligen Krieg. Man verwandelt Schlachthöfe in Kathedralen.

Für den totalen Verzicht auf jegliche Spur von Wirklichkeit stehen fake news. Donald, der Zauberer, lässt nicht nur das Kaninchen verschwinden, sondern auch noch den Zylinder. Er zieht gleichwohl alle Blicke seiner Anhänger auf sich.  Er lügt sich die Dinge in einer zweiten Wirklichkeit erst zurecht. Und dann glaubt er sie.

Welche Gründe gibt es für den anwachsenden Gebrauch der Übertreibung in der politischen Rhetorik? 

Auch Politiker folgen den Ideen der Produktwerber. Sie wollen auf sich aufmerksam machen. Der Weg in die Talkshow ist mit Übertreibungen gepflastert. Kommt man dort an, gehört man - vom Hinterbänkler zum Debattenstar! -  zur politischen Prominenz. Dann ist man so gut wie (wieder) gewählt.

Doch das Reden in Übertreibungen fördert nicht nur biografische Träume. Wer übertreibt, lenkt, mehr oder weniger, von der Wirklichkeit ab. Er verändert sie.  Die Übertreibung macht aus einer oft komplizierten Wirklichkeit eine ziemlich klare, einfache Sache. Sie fasst das schwer Deutbare in einfache, anschauliche Formeln. Es ist kein Zufall, dass die Übertreibenden einen Hang zur Metapher haben, weil auch ein sprachliches Bild mehr sagen kann als tausend Worte. Man kann dabei allerdings auch abstürzen. Denn wie soll das gehen: Marathon mit Volldampf? Und was ist das – ein Wumms?

Die Übertreibung macht Druck. Sie kürzt langwierige Gespräche ab. Sie beschleunigt den Diskurs. Dadurch verändern sich wirklich schwierige, zeitraubende Verhandlungen mit langen Texten in plakative Überschriften mit Botschaften, zu denen man nur noch ja oder nein sagen soll: Vogel, friss oder stirb! Aber fang` nicht auch noch an zu singen! Die Übertreibung macht kürzeren Prozess, wo etwas länger gefackelt werden müsste. Sie hobelt die Wirklichkeit, doch sie ignoriert die Späne.

Dieser Effekt treibt Schwarz-Weiß-Denkern die Hasen in die Küche. Er polarisiert. Er führt zu Spaltungen.   Er entspricht einem Stil und einem Ziel von Politik, die nach Art der ins Kraut schießenden Umfragen nur noch ja oder nein kennt.  Weiß nicht – das sind die, die den Schuss nicht gehört haben. Der Gläubige dagegen ist sich sicher. Er hat sich entschieden. Er zögert nicht. Er kann nur noch vom rechten Glauben abfallen. Der Zögerer räsoniert. Doch nicht nur für schwere Waffen, auch für das Zögern, muss man sich entscheiden, für Reflexion, für das Differenzieren. Für den ganzen Aufwand an Zeit.

Und es hat Klick gemacht! Da freut sich der Journalist.

© imago images/Panthermedia/AndreyPopov via www.imago-images.de

Die Übertreibung fördert ein manichäisches Weltbild, in dem es nur noch zwei Farben gibt. Sie steht, unreflektiert und im Übermaß angewandt, für eine Abwendung von der ersten Wirklichkeit. Sie baut an einer zweiten Wirklichkeit Man übertreibt daher nicht mit der Vermutung, dass die Übertreibung der Populisten liebstes Kind ist. Ein Mittel vor allem für Politiker, deren Reichtum in der Armut ihrer Gedanken besteht. Die auf jeden runden Tisch sofort draufschlagen müssen. Die den Bürgern zeigen, wo ihr Hammer hängt, mit dem sie klare Kante schaffen.

Wie kann man diesen problematischen Nebeneffekt des Übertreibens dämpfen? Und wer käme dafür in Frage? In erster Linie diejenigen, die das politische Geschehen professionell begleiten:  Journalisten. Sie hält man für kompetent, die Nachprüfung Übertreibungen kontinuierlich vorzunehmen. Doch auch sie suchen Prominenz, wollen erfolgreich sein, ein Objekt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Das Übertreiben ist auch ihnen nichts völlig Fremdes. Darin unterscheiden sie sich nicht von Politikern. Macht man also den Bock zum Gärtner, wenn man ausgerechnet von ihnen erwartet, dass sie durch ihre Arbeit das Aufwachsen einer zweiten Wirklichkeit verlangsamen oder gar von Fall zu Fall beenden?

Solange auch für Journalisten der Erfolg von der Höhe der Auflage, der Quote oder den Klicks und Followern abhängt, wird man von ihnen mit Blick auf eine sprachliche Aufklärung nichts Wesentliches erwarten können. Eine kommerzialisierte Publizistik hat andere Ziele. Sie dient überwiegend der Vermehrung von Gewinnen, weniger dem Gewinn an Einsichten.

Doch genau das könnte (abgesehen von wenigen noch rentablen Zeitungen und Zeitschriften) die Journalisten eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks leisten, der nicht nur zähneknirschend zulässt, sondern verlangt, dass politische Journalisten die Sprache von Politikern analysieren, dass sie wie Sprachkritiker arbeiten können. Ohne Druck. Ohne Auflage oder Quote als Messlatte des Erfolges. Vielleicht auf einem Sendeplatz in der Primetime für die „Übertreibungen der Woche“. Ihr Erfolg wäre eine plausible Aufklärung. Und wenn das die Massen nicht unterhält oder gar begeistert, droht ihnen kein abruptes Ende, wie es jüngst dem Verlag Gruner und Jahr vom Eigentümer verordnet wurde.

Übertreibung ist ein Mittel der Unterhaltung. Im Übermaß verwandt beschädigt es eine kritische Öffentlichkeit, die unterhaltsam sein kann, aber nicht sein muss. Nur nicht langweilen ist kein Konzept für einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, sondern bestenfalls ein Missverständnis.  

Wenn derzeit über die Reform dieses Rundfunks nachgedacht wird, dann sollte man es nicht dabei belassen, wie man übertriebene Kosten vermeidet. Oder regionale Skandale aufdeckt. Die Frage kann für die Zukunft nur lauten: wie viel Geld ist nötig, um ganz ausdrücklich und skrupellos eine Art von Journalismus zu bezahlen, die eine kritische Öffentlichkeit angemessen versorgt. Dass das derzeit nicht gerade knappe Geld nicht für Projekte ausgegeben wird, die zu haben angenehm, aber nicht notwendig ist. Einen Wettbewerb mit den Streamern kann auch ein gut finanzierter Rundfunk nicht gewinnen. 

Es ist nicht die Häufung der Skandale, die diesem Rundfunk die Reputation raubt. Die ihn, zur Schadenfreude mancher Beobachter, aussehen lässt wie einen failed broadcaster. Es ist das nur noch undeutlich definierte Ziel, das eine solche Einrichtung in Bedrängnis bringt. Dieses Defizit ist der eigentliche Skandal. Es gibt nichts zu verteidigen.  Es sind die fahrigen, unklaren Konzepte, die bei jedem Personalwechsel verworfen und dann neu erfunden werden. Nicht der rufschädigende Missbrauch der Mittel, sollte der Anlass für Reformen sein. Was fehlt, ist nicht Geld. Es fehlt  eine Reformulierung der Idee, wozu man diesen Rundfunk angesichts einer zunehmenden Kommerzialisierung der Publizistik braucht – mehr denn je.  

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