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Hereinspaziert in die Gehirnfabrik: Das Start-up Zeitgeist verspricht einen positiven „Mindfuck“.

© Ivan Kravtsov

Yael Ronen an der Schaubühne: Das Trauma einfach neu programmieren

Die Regisseurin Yael Ronen scheint in ihrer Inszenierung „Bucket List“ auf den Hamas-Terror vom 7. Oktober zu reagieren. Ihre persönliche Erschütterung erfasst auch das Berliner Premierenpublikum.

„Samstag bin ich aufgewacht, vergraben in den Trümmern meiner früheren Realität“, singt der Performer Damian Rebgetz zu Beginn von „Bucket List“, der neuen Inszenierung von Yael Ronen in der Berliner Schaubühne. Und klingt dabei nicht nur rat-, sondern auch schutzlos, auf eine Art, die einen ganz unvermittelt erwischt, ohne dass man eigentlich erklären könnte, warum. „Obwohl mir alles irgendwie bekannt vorkam“ – so geht der Song weiter – „war klar, dass sich alles bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte.“

2009, in einer früheren Realität, hatte die 1976 in Jerusalem geborene Regisseurin genau hier, in der Schaubühne, ihr Stück „Dritte Generation“ herausgebracht: einen wahrhaft bahn- und tabubrechenden Abend, der hitzige Debatten anstieß, weil er israelische, palästinensische und deutsche Schauspielerinnen wie Schauspieler der dritten Generation nach der Shoah in einer theatralen Gruppentherapie zusammenbrachte.

Mit tiefschwarzem Humor und ohne Rücksicht auf Schmerzgrenzen hauten sich die Enkel der Täter und die Enkel der Opfer gegenseitig historische Traumata, Schuldfragen und Ressentiments um die Ohren.

Kathartisch und zutiefst menschlich

Ein beispielhaft kathartischer und zutiefst menschlicher Abend war das – der ein Riesenerfolg wurde und dessen Thema Ronen in ähnlichen Settings auch in ihren späteren Inszenierungen als Hausregisseurin am Maxim-Gorki-Theater immer wieder aufgriff. Etwa 2016 in „The Situation“, wo syrische und israelische Akteure jüdischer wie palästinensischer Herkunft in einem fiktiven Deutschkurs an einer Neuköllner Volkshochschule den Nahost-Konflikt durchdeklinieren.

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat sich das Gorki gemeinsam mit der Regisseurin entschlossen, diesen Abend auf unbestimmte Zeit vom Spielplan zu nehmen. Ronen selbst äußert sich dazu auf der Website des Hauses, dass das Stück zeige, „wer wir vor fast neun Jahren waren, als es geschrieben wurde“.

Und wie das, was sich ihr damals als Realität dargestellt habe, in seinen „Grundfesten erschüttert worden“ sei. „Es heißt, Komödie ist Tragödie plus Zeit“, schreibt Ronen, die Humor-Spezialistin des Theaterbetriebs par excellence, weiter, spürbar angefasst und ratlos.

Tragödie oder Komödie?

„Bucket List“ in der Schaubühne – ein Musical, was ursprünglich einmal, in einer anderen Zeit, angekündigt war als Abend über die Dinge, die Menschen vor ihrem Tod noch zu erledigen haben – lässt sich als künstlerisches Zeugnis zwischen diesen Zeitrechnungen lesen; auch zwischen der Tragödie und der Komödie. Erneut hat Ronen mit dem Komponisten und Songwriter Shlomi Shaban zusammengearbeitet, mit dem sie vor zwei Jahren am Gorki schon das großartige Cancel-Culture-Musical „Slippery Slope“ entwickelt hatte.

Szenenbild aus „Bucket List“ von Yael Ronen.
Szenenbild aus „Bucket List“ von Yael Ronen.

© Ivan Kravtsov

Auch dieser Abend changiert zwischen beiden Polen: mal offensiv, mal subkutan. Es ist diejenige Produktion auf dem Theater, die einen seit gefühlten Ewigkeiten am ehrlichsten und ungeschütztesten – und darin eben auch am reflektiertesten – an ihrem Ringen teilhaben lässt. Darum, was angesichts der Ereignisse überhaupt eine adäquate künstlerische Form sein kann, sein soll.

Am Ausgangspunkt von „Bucket List“ findet sich ein Mensch zunächst einmal ganz individualbiografisch in einer neuen Wirklichkeit wieder. Kein Stein liegt mehr auf dem anderen, keine Gewissheit ist mehr verfügbar. In diese Lücke hinein springt – mit Ronen-typischer, hochnotkomischer Chuzpe – die Hightech-Agentur Zeitgeist.

Ein Start-up, das in einer grandiosen Musical-Nummer zur Live-Band um Thomas Moked Blum, Amir Bresler und Hila Kulik/Shatzky und unter Stimmführung von Ruth Rosenfeld seine revolutionäre Dienstleistung feilbietet: die trauma-auslöschende Neuformatierung des Gedächtnisses. Die lässt sich selbstredend auch kollektiv als Transformation ganzer Narrative buchen.

Die Wirklichkeit ruft an

Bis der vermeintlich wohlmeinende „Mindfuck“ abgeschlossen ist, kommt es allerdings immer wieder zu Erinnerungsrückfällen. Und so finden sich die vier Akteurinnen und Akteure auf Magda Willis Bühne, die den Charme eines Show-Settings in steriles Laboratoriumsweiß hüllt, wechselweise in früheren traumatisierenden Beziehungs- und globalen Kriegs- und Krisensituationen wieder.

Gerade noch haben sich Carolin Haupt und Moritz Gottwald in einem wechselseitigen Fremdgangsduett komödiantisch zerfleischt, da „ruft die Wirklichkeit an“. Mit Nachrichten von abgebrannten Dörfern, getöteten Männern, vergewaltigten Frauen und Kindern.  

An sich sind Standing Ovations im Theater ja nichts Besonderes. Der Applaus, zu dem sich der Großteil des Publikums nach dieser Premiere aber spontan erhebt, ist es schon. Eine derart angefasste Atmosphäre herrschte lange nicht in einem Zuschauerraum.

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