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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gibt am 27. Februar eine Regierungserklärung ab und sagt: „Wir erleben eine Zeitenwende.“ 

© dpa/Bernd von Jutrczenka

Das Wort des Jahres: Zeitenwende? Wendezeit! Und die ist wörtlich zu nehmen

Kanzler Scholz läutete die „Zeitenwende“ ein, von der nun immer wieder die Rede ist. Auch Begriffe können also von einer Inflation betroffen sein. Und mitunter sind sie dennoch falsch.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Es begab sich zu der Zeit – nein, das wird jetzt keine Weihnachtsgeschichte, obwohl wir noch in der Weihnachtszeit sind, noch eine ganze Weile. Aber es wird immerhin die Geschichte von der Karriere eines Wortes, das in diesem Jahr fast ganz am Anfang stand: Zeitenwende. Die hat es schon mal bis zum Wort des Jahres geschafft.

„Zeitenwende“ stammt aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022 im Parlament, wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Nicht dass Scholz danach messianische Botschaften verbreitet hätte, solche Anwandlungen hat er nicht. Viele sagen: gottlob. Obwohl er ja schon denkt, er wüsste vieles, wenn nicht alles besser, und hätte es auch schon vorhergesagt.

Zeitenwende war vielmehr ein sachlicher, nüchterner, kalkulierter Begriff für das, was sich ereignet hatte und seither ereignet: ein Bruch mit dem, was sich der Westen lange von der Entwicklung Russlands unter Wladimir Putin erhofft hatte. Besonders in Deutschland war die Hoffnung groß. Sprach Putin doch Deutsch und bezog sich auf den Aufklärer Kant. Heraus gekommen ist: ein großer Irrtum.

Unter Zeitenwende stellt man sich gemeinhin den Beginn einer neuen Ära vor, eines neuen Zeitalters. Am liebsten im positiven Sinne. Davon kann hier keine Rede sein. Eher davon, dass es jetzt das Jahr 1 nach dem Überfall ist, ein bisschen – wirklich nur als Anklang und Hallraum – wie bei der christlichen Zeitrechnung. Und richtig ist: Zumal für uns Deutsche ist nichts mehr wie vorher.

Darum wäre es auch gut, wenn der Begriff jetzt nicht inflationiert würde; Scholz würde das bestimmt auch begrüßen. Denn er muss mächtig kämpfen, dass sie überhaupt stattfindet, in der Tat, nicht bloß im Wort. Bei der Bundeswehr, zum Beispiel.

Und diejenigen, die es sonst gebrauchen, machen damit Interessenpolitik, wie der freidemokratische Finanzminister Christian Lindner oder eben erst der christdemokratische Generalsekretär Mario Czaja. Da klingt Zeitenwende bald mehr nach Rolle rückwärts. Wer will das schon.

Am Ende ist das Wort derart oft verwendet worden, und zwar allüberall, dass es geradezu durchgekaut wirkt. Dann verliert es aber endgültig jede Kraft, wirkt es nicht mehr strahlend, sondern esoterisch, mit Olaf Scholz als eine Art Geistheiler. Vielleicht drehen wir es deshalb einmal um: Im neuen Jahr kommt eine Wendezeit.

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