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Moritz Rinke sammelt Erinnerungen an die Gegenwart: Die Revolution unter den Zeitungsstapeln

Man könnte sich eigentlich jeden Tag darüber wundern, dass gerade keine Revolution stattfindet.

Narren wie ich, die monatelang Stapel mit Zeitungen bilden, weil sie die Zeit, ihre Skandale und Ungeheuerlichkeiten festhalten und nicht vergessen wollen, die könnten im Grunde jeden Tag eine Revolution stattfinden lassen. Meist ist es so, dass ich einen Artikel oder eine Schlagzeile lese, mich empöre und mir sage: Diese Schlagzeile hebst du auf, da recherchierst du weiter, da machst du was Grundsätzliches draus, die Gangster können was erleben!

So war das zum Beispiel mit dem Export deutscher Patrouillenboote nach Saudi-Arabien. Ich wühlte schon nach den älteren Artikeln über den Export von Leopard-Kampfpanzern, die mitten im Arabischen Frühling nach Saudi-Arabien geliefert wurden, aber schon am nächsten Tag gab es nichts mehr über deutsche Patrouillenbote in den Zeitungen. Dafür der Pferdefleischskandal, die Fertig-Lasagne! Ungeheuerlich, dachte ich, das ist wirklich skandalös. Dann trat überraschend der Papst zurück und ich legte alle Papstberichte auf die Berichte über den Pferdefleischskandal und die Lasagne, unter denen schon die Artikel über die Patrouillenbote und die längst fällige Finanztransaktionssteuer lagen, deren schleppende gesetzliche Umsetzung mich eigentlich sofort zur Ausrufung der Revolution hätte bewegen müssen. Wenn die Finanztransaktionssteuer nicht kommt, sagte ich mir, dann zahle ich selbst keine Steuern mehr, dann rufe ich dazu auf, dass keiner mehr Steuern zahlen soll, so lange nicht genau auch jene Steuern zahlen, die Europa mit ihren Transaktionen in Schutt und Asche gelegt haben.

Apropos Europa: Wie viele Europa-Artikel ich gesammelt habe! Skandalöse G-20-Gipfel, immer neue Bankenrettungen, die Enteignung der Sparer durch die EZB, der Wahnsinn in Brüssel etc., aber irgendwann bedeckte dieser FDP-Brüderle mit seinem völlig überdimensionierten Dirndl-Skandal meine Europa-Artikel und die Artikel über die Finanztransaktionssteuer, die ja thematisch zusammengehören. Und immer dann, wenn ich meine Revolutionsstapel einigermaßen geordnet hatte, polterte der SPD-Kanzlerkandidat mit seinen Interview-Skandalen dazwischen, die jegliche Konzentration auf das Wesentliche zunichtemachten.

Natürlich muss man auch für die Homo-Ehe auf die Straße gehen, sagte ich mir an manchen Tagen und legte einen diesbezüglichen Artikel über die CSU auf den irrsinnigen Stapel mit den Dirndl-Sexismus- und den SPD-Kanzlerkandidaten-Debatten. Aber was passierte? Der Legehennen-Skandal, die falsch deklarierten Bio-Eier! Einen Tag saß ich also voller Misstrauen und ohne Ei beim Frühstück, taute schon mal die Fertig-Lasagne für’s Mittagessen auf – weil ja jeder nachfolgende Lebensmittelskandal den vorherigen quasi ungeschehen macht – und starrte völlig handlungsunfähig auf die neuesten Meldungen in der Zeitung.

Ende Februar ist Stéphane Hessel gestorben. Er war ein feiner Herr, der noch im hohen Alter das Manifest „Empört euch!“ veröffentlichte. Er wollte, dass man sich wieder darauf besinnt, was die Résistance der Nachkriegszeit mit auf den Weg geben wollte: kollektive Verweigerung, Aufstand, Revolution.

Momentan beschäftige ich mich mit dem Mindestlohn. Eigentlich müsste man nicht nur für den Mindestlohn sofort auf die Straße gehen, sondern schon gegen das Wort an sich. Ich sammele jetzt alle Artikel über „Mindestlohn“ und ordne sie zu den alten Artikeln über die Bankenrettungen, sie gehören für mich inhaltlich zusammen. Daneben lege meine gesammelten Hessel-Nachrufe. Vielleicht hilft es.

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