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Gasleitungen mit Absperrventilen und Druckanzeigern führen in einen Erdgasspeicher in Ungarn.

© dpa/Attila Volgyi/XinHua

Gasverteilnetze werden überflüssig: Die wahre „Verschrottungsorgie“ kommt erst noch

Klimafreundliches Heizen geht nicht mit Erdgas – die Infrastruktur dafür wird obsolet. Niemand sollte für ungenutzte Leitungen zahlen müssen. Legt sie still!

Ein Kommentar von Sinan Reçber

Die wahre „Verschrottungsorgie“ kommt in Deutschland erst noch – aber sie wird still und leise stattfinden. Dabei geht es nicht um das vermeintliche Zwangsverschrotten von Öl- und Gasheizungen. Eine solche Maßnahme hatte die Bundesregierung ohnehin nie geplant, auch wenn bestimmte Parteien oder Medien das hartnäckig behaupten.

Es geht um die rund 522.000 Kilometer Leitungen, die in der Regel unter Straßen und Häusern liegen und noch immer große Teile der Bevölkerung mit Erdgas zum Heizen versorgen. Es geht also um das sogenannte Gasverteilnetz, das sich von den Fernleitungen unterscheidet.

Gasverteilnetze nach und nach stillzulegen, liegt nahe, wenn man sich eine Tatsache in Erinnerung ruft: Erdgas ist wie Kohle und Öl ein fossiler Energieträger. Die Verbrennung stößt CO2-Emissionen aus und befeuert die Klimakrise.

Wenn die Emissionen in Deutschland bis 2045 unterm Strich auf null sinken sollen und künftig klimaneutral geheizt wird, kann das nur eines bedeuten: Deutschland steigt aus Erdgas aus, und die Verteilnetze verlieren weitestgehend ihren Zweck.

Auf diesen Umstand hat die einflussreiche und politisch gut vernetzte Denkfabrik Agora Energiewende jüngst in einer neuen Studie hingewiesen: Für mehr als 90 Prozent der bestehenden Gasverteilnetze werde es langfristig keine Verwendung mehr geben.

Nur, wenn die Politik die geordnete Stilllegung vorantreibe, lasse sich verhindern, dass die Gasrechnung von Verbraucher:innen explodiert.

6400 Euro Rechnung jedes Jahr – nur an Netzengelten

Der Grund: Gaskund:innen müssen über die Netzentgelte für den Betrieb, die Wartung und den Ausbau der notwendigen Verteilnetze aufkommen – auch für solche Netze, die künftig nicht mehr in Gebrauch sind.

Je mehr Menschen auf Wärmepumpen oder Fernwärme umsteigen, desto weniger Gasanschlüsse wird es geben. Immer weniger Gaskund:innen müssten also eine zunehmend obsolete Infrastruktur finanzieren, die von klimaschonenden Alternativen ersetzt wird.

Ohne Gegenmaßnahmen könnten sich die Netzentgelte für Gaskund:innen laut Agora-Studie bis 2044 versechzehnfachen: Bei einem Vier-Personen-Haushalt und einem durchschnittlichen Verbrauch von 20.000 Kilowattstunden würden sich die jährlichen Netzentgelte also von rund 400 Euro auf 6400 Euro erhöhen. Und das nur, um eine fossile Infrastruktur am Leben zu erhalten, die in großen Teilen nutzlos geworden wäre.

Eine solche fossile Preisexplosion wäre unnötig und weder marktwirtschaftlich noch sozial gerecht. Auch die Netzbetreiber würden ohne eine geordnete Stilllegung Milliardensummen in fossilen Investitionsruinen versenken. Die Erdgasverteilnetze haben bis auf einige Ausnahmen kaum eine Zukunft mehr.

Umstellung auf Wasserstoff wäre beim Heizen teuer und sinnlos

Doch die Erdgaslobby und die Verteilnetzbetreiber werden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihre Pfründe zu sichern. Schließlich ist das Erdgasnetz fast 60 Milliarden Euro wert, und das fossile Netzgeschäft wirft seit Jahrzehnten zuverlässig Profite ab. Kostengünstiger Klimaschutz würde das Ende für dieses Modell bedeuten.

Eine Gegenforderung der Erdgaslobby lautet, die Politik sollte einen Großteil der Verteilnetze auf klimafreundlichen Wasserstoff umstellen lassen, statt die Rohre stillzulegen.

Haushalte sollen also einen Energieträger nutzen, der auf absehbare Zeit knapp und teuer sein wird, und der beim Heizen wesentlich ineffizienter ist als Strom für die Wärmepumpe. Andere Wirtschaftsbereiche wie die Chemie- und Energieindustrie oder der Flug- und Schiffsverkehr brauchen den Wasserstoff dringender. Dort ist er besser aufgehoben.

Keine mündige Bürgerin und kein mündiger Bürger sollte sich auf die gefährliche Ablenkungstaktik der Erdgaslobby einlassen. Erst kürzlich beklagte der Expertenrat für Klimafragen wieder einmal, dass Deutschland seinen fossilen Kapitalstock noch immer nicht schnell genug für die Klimaziele zurückbaut.

Kostengünstigem Klimaschutz gehört die Zukunft – fossiler Infrastruktur nicht. In diesem Sinne: Frohes Verschrotten!

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