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Erinnerungen an die Gegenwart: In den Trümmern des NSA-Skandals

Die Gegenwart ist wieder voller Erregungen.

Abgeordnete mit mutmaßlicher Kinderpornografie; Fraktionsversitzende, die mutmaßlich das Bundeskriminalamt zum Rechtsbruch aufrufen und eine Staatskrise auslösen; Minister, die Geheimnisse verraten und zurücktreten müssen; Idole unserer Zeit, die Steuern hinterziehen; Bischöfe, die Steuern verprassen, dazu der ADAC, ausgerechnet der ADAC, auf den doch mindestens immer genauso Verlass war wie auf Alice Schwarzer, aber das nur am Rande.

Ich glaube ja nicht, dass alles noch schlechter und noch unmoralischer geworden ist, als es sowieso schon war. Ich glaube auch nicht, dass wir uns noch mehr aufregen müssten, als wir uns von Skandal zu Skandal sowieso schon aufregen. Vermutlich liegt unsere immer größere Aufregung daran, dass wir die Aufregung an sich längst wichtiger nehmen als alles andere: Wir schauen immer noch aufgeregtere Talkshows, lesen noch aufgeregtere Schlagzeilen. Und wir haben eine Gier nach Rücktritten, nach Blut und tiefem Fall – nach einem Höhepunkt in jeder Aufregung.

Vor einigen Tagen war ich mit anderen Schriftsteller-Kollegen in den Bundestag eingeladen, es ging um einen anderen Skandal, den Abhör-Skandal, den NSA-Skandal. Geladen waren wir von der Grünen-Fraktion, die gerade im Skandal um die mutmaßlich kinderpornografischen Schriften weitere Konsequenzen und Untersuchungsausschüsse fordert, vermutlich haben die Grünen ganz vergessen, dass sie unlängst einen eigenen Pädophilie-Skandal hatten, aber das nur nebenbei … 562 Schriftsteller aus 83 Ländern hatten eine Petition zum NSA-Datenskandal verfasst, und die wurde nun in den Bundestag eingebracht.

Ich beobachtete die Bundestags-Debatte von der Besuchertribüne aus. Keinen einzigen Minister konnte ich sehen, nicht mal den Innenminister, auch die Parlamentssitze waren überwiegend leer, überall lilafarbene leere Sitze, wie in einem traurigen Theater. Die Einzigen, die ich kannte, waren Ströbele und Petra Pau. Die wenigen Abgeordneten, die gekommen waren, hörten gar nicht zu, sondern tippten auf ihren iPads herum. (Ging es nicht gerade um den größten Datenskandal des transatlantischen Bündnisses?) Ein SPD-Abgeordneter mit gebrochenem Arm lief durch die Reihen und zeigte den anwesenden Koalitionspartnern seinen Gips; eine junge CSU-Abgeordnete mit einem engen schwarzen Rock lief vor der Regierungsbank auf und ab wie auf dem roten Teppich bei der Berlinale.

Sieben Abgeordnete hielten ihre ersten Reden im Bundestag und fielen sich danach in der Fraktion um den Hals wie nach dem Abitur. Einer erzählte den Schriftstellern, dass sich seine Eltern bei einer Demonstration für mehr Demokratie und für Willy Brandt kennengelernt hätten, sonst wäre er heute nicht hier. Aber warum waren wir hier? Um festzustellen, dass die NSA-Debatte schon längst wieder vorbei ist?

Irgendwie ist das mit unseren Skandalen ein seltsames Ding. Wir rennen von Skandal zu Skandal, wir stürzen uns auf den Skandal, wir sind ganz außer uns wegen des Skandals und dann kommt ein neuer Skandal und wir springen mitten in der Erregung zur nächsten Erregung. Eine Zeit, die nur solche erregten Augenblicke feiert und überhöht, das ist wirklich eine seltsame Zeit: eine Mischung aus einer rasenden, grellen Gegenwart, die dann aber wieder sehr bald in dunkler, unverarbeiteter Vergangenheit liegt. So wird auch jeder Skandal unter all den Trümmern der neueren Skandale vergessen werden.

Von der Zuschauertribüne des Bundestags waren jetzt die Trümmer des NSA-Skandals schon deutlich zu sehen.

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