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Erinnerungen an die Gegenwart: Mein persönlicher Hunsrück

In diesen Tagen war ich bei der „Lola“, dem Deutschen Filmpreis.

Am Vortag war ich schon bei der „Europäischen Schriftstellerkonferenz“, da waren naturgemäß sehr viele Schriftsteller, die alle etwas sehr Geistvolles über Europa sagen wollten, was wahnsinnig anstrengend war; ich sehnte mich schon nach Martin Schulz aus Brüssel oder nach der Lola.

Bei der Lola wurde dann fast gar nichts mehr Geistvolles gesagt, nur noch gewitzelt, und ich sehnte mich wieder nach der Schriftstellerkonferenz. Wie heimatlos man in Deutschland schon allein zwischen zwei Veranstaltungen werden kann, dachte ich, bis nicht Martin Schulz aus Brüssel, sondern Edgar Reitz aus dem Hunsrück die Lola-Bühne betrat. Wie wohltuend authentisch dieser Mann ins Mikrofon sprach! Die Filmausschnitte im Hintergrund zeigten die Heimat des Regisseurs, und die Landschaft, der Hunsrück, breitete sich wie eine ruhige Hand über die verwitzelte, verzappelte Lola-Welt.

Am nächsten Tag fuhr ich nach Worpswede, zum 125. Jubiläum meines Geburtsortes, ich hatte nach der Lola und der Europäischen Schriftstellerkonferenz noch nie so eine Sehnsucht nach Heimat, so als würde mich die ruhige Hand von Edgar Reitz aus dem verzappelten Berlin in meinen persönlichen Hunsrück leiten.

Früher, als ich Mitte zwanzig war, hatte Heimat etwas Beengendes. Wenn ich zu Hause ankam, verschoben sich die Proportionen. Natürlich war das Haus in Worpswede, in dem ich lebte, größer als die Mietwohnung in Berlin, dennoch kam mir alles kleiner vor. Im Badezimmer hatte ich das Gefühl, ich müsste den Kopf einziehen, das Waschbecken hänge zu tief und der Spiegel sei zu klein. Wenn man mir Bilder mit den berühmten Malern von Worpswede zeigte und ich ihre Moorlandschaften bewundern sollte, lief ich weg. Wenn ich auf Reisen in Hotels Bilder mit den berühmten Worpsweder Moorlandschaften der Modersohns sah, hing ich sie ab. Wenn ich noch bis vor kurzem gefragt wurde, warum das Licht und der Himmel über Worpswede so besonders seien, fing ich an zu schimpfen.

Als Kinder wurden wir mit dem Himmel über Worpswede tyrannisiert. Wir mussten den Himmel ja nicht nur anschauen, wir mussten ihn ja auch in Aquarell malen und im Erdkundeunterricht sprachen wir nicht über die Niagarafälle oder den Dschungel in Afrika, sondern über den Worpsweder Himmel und warum er so leuchtete. Offenbar begriff niemand, dass der Himmel für uns ganz normal war, der leuchtete eben so, basta. (Und deshalb musste man auch ganz bestimmt nicht wie Rilke darüber Gedichte schreiben oder Maler werden!)

Als ich Edgar Reitz auf der Bühne der Lola sah, dachte ich, dass Heimat eigentlich erst durch den Umweg entsteht, vielleicht ist es das, was Peter Handke mit der „Langsamen Heimkehr“ meint; in der Erkenntnis des Entferntseins bereitet sich also so etwas wie Heimkehr vor.

Ich hätte so etwas Kitschiges wie „Heimat“ auch wirklich niemals zu lieben begonnen, wenn ich nicht vermutlich viele Jahre in Berlin in der Hauptstadt auf Filmbällen, Schriftstellerkonferenzen, Theatertreffen oder sonst was eingesperrt worden wäre. Man könnte sagen, Heimat war plötzlich ein wie verwandeltes Gefängnis. Die Häuser weiteten sich wieder auf das Maß der Kindheit, das Badezimmer würde plötzlich wieder größer und ich sah mich wieder ganz im Spiegel. Und beim Anblick des Worpsweder Himmels kamen mir sogar die Tränen.

Auf der Rückfahrt lief im Radio Herbert Grönemeyer mit einem Song von der Platte „4630 Bochum“. Irgendwann habe ich mitgesungen: „Bochum, ich komm aus dir, Bochum, ich häng an dir.“

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