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Berit Reiss-Andersen vom Nobelpreis-Komitee zeigt ein Handy-Foto von Nargis Mohammadi, der diesjährigen Gewinnerin.

© IMAGO/NTB/IMAGO/Terje Pedersen

Norwegens Votum für die Welt: Die Nobelpreis-Jurys sind zu homogen für den Weltruf ihrer Urteile

Die Vorherrschaft des Nordens gerät überall unter Druck. Das könnte auch die ehrwürdigsten Auszeichnungen der Welt betreffen. Denn sie stehen für die alte Ordnung.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Zwei Frauen, deren Lebenswelten kaum unterschiedlicher sein könnten, wurden am Freitag durch den Friedensnobelpreis in unmittelbare Nähe gerückt. Wenn auch nur für die paar Minuten, die Berit Reiss-Andersen benötigt, die Vergabe des wichtigsten internationalen Friedenspreises an Narges Mohammadi zu verkünden und zu begründen.

Reiss-Andersen ist Vorsitzende des Nobelpreis-Komitees in Norwegen, dem Land, das als eins der ersten weltweit ein Frauenwahlrecht eingeführt hat und als Gleichstellungsvorreiter gilt. Mohammadi ist Iranerin und sitzt im Gefängnis.

Sie hat sich für Frauen- und Bürgerrechte mit dem religiös-fundamentalistischen und brutal-autoritären Regime an der Spitze ihres Landes angelegt. Sie wurde 13 Mal verhaftet, fünfmal zu insgesamt 31 Jahren Gefängnis und 154 Peitschenhieben verurteilt.

Natürlich ist es richtig und gut, wenn dieser fast schon übermenschliche Mut und diese Todesverachtung gewürdigt werden. Wie es umgekehrt schlimm wäre, wenn davon keiner erführe. Doch zugleich hat diese Sichtweise schon etwas von einer Welt, wie sie sein sollte, aber keinesfalls ist.

Wenn die iranischen Behörden die richtigen Entscheidungen treffen, werden sie sie entlassen, damit sie die Auszeichnung entgegennehmen kann, was wir hoffen.

Berit Reiss-Andersen zur Preisübergabefrage

Wie Mohammadi als Inhaftierte denn den Preis überreicht bekommen solle, war eine der Nachfragen an die Nobelpreiskomitee-Vorsitzende. Reiss-Andersen antwortete: „Wenn die iranischen Behörden die richtigen Entscheidungen treffen, werden sie sie entlassen, damit sie die Auszeichnung entgegennehmen kann, was wir hoffen.“

Man muss kein Zyniker sein, um sich zu fragen, ob es nicht wahrscheinlicher ist, dass der Preis für eine Inhaftierte dem Teheraner Regime wie eine Provokation vorkommt und es seine Wut darüber an Narges Mohammadi auslassen wird. Dass es sich vielleicht sogar freut über diese unverhoffte Gelegenheit, der ganzen Welt mit wenig Mühe, aber großer Wirkung zu demonstrieren, wie wenig es von ihr hält.

Und so machen die Gewinnerverkündung und die naive Einlassung der Komitee-Chefin in diesem Jahr vielleicht so deutlich wie selten zuvor, dass die Nobelpreise zwar ausdrücklich als Weltereignisse verstanden werden sollen, dass sie das aber vor allem in der Theorie sind. In der Praxis sind sie eher Zusammentreffen von kleinen exklusiven Jury-Clustern mit dem Rest der Welt.

Aber während der vielfältig und divers ist, sind die Cluster skandinavisch geprägt. Und so entsprechen die von ihnen ausgerufenen Gewinner oft dem Blick, dem Denken, den Traditionen des globalen Nordens.

Lange schien die Verteilung von Macht und Einfluss akzeptiert zu sein

Wie der globale Süden Fragen nach den bedeutendsten Forschern oder Friedensaktivisten beurteilen würde, ist vergleichsweise unklar. Das war lange Zeit zumindest im Norden auch kaum von Interesse, weil sich alle Welt in die Verteilung von Macht und Einfluss gefügt zu haben schien. Aber das ist offenkundig vorbei. Überall wird aufbegehrt gegen die alten Vorherrschaftsmuster.

Anti-Kolonialismus und Antirassismus sind in Süd, Nord, Ost und West große Themen geworden. Ehemals unterdrückte Länder und Personen fordern Erklärungen, Entschuldigungen, Veränderungen. War alles richtig, wie es war, und wenn nicht, was kann man künftig besser machen?

Auch der Ukraine-Krieg und die Militarisierungstendenzen, die dem diesjährigen Friedensnobelpreis wiederum einen besonderen Beigeschmack verliehen, zeigen, dass und wie sich die Welt neu sortiert.

Die Auseinandersetzung dauert seit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 an und ufert immer weiter aus, Ende und Ausgang nicht in Sicht und immer unklarer. Was den alten Westen nahezu täglich beschäftigt und wie eine Katastrophe vorkommt, war und ist auf der Südhalbkugel kaum halb so wichtig.

Die Welt diversifiziert sich aktuell massiv – und so kann durchaus die Frage gestellt werden, wie zeitgemäß die Art und Weise der Nobelpreisvergaben noch sind. Dass im Bereich der Naturwissenschaften vor allem ältere Wissenschaftler und sehr oft aus den USA ausgezeichnet werden, lässt sich zwar begründen, war aber schon häufiger Anlass für Kritik. Dass der Literaturnobelpreis subtile politische Botschaften enthalte, ebenso.

Aber sind nicht neben den oft ähnlichen Gewinnern inzwischen auch die homogenen Jurys und die Exklusivität ihrer Entscheidungsfindung Anlass für etwas Selbstkritik und womöglich neue Wege?

Natürlich können die Nobelpreise genauso gut bleiben, wie sie sind. Schließlich sind sie privat gestiftete Auszeichnungen. Aber ihrem Anspruch auf Weltbedeutung tun sie damit kaum einen Gefallen. Wer die ganze Welt beurteilen will, sollte auch die ganze Welt mit urteilen lassen.

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