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Immer wieder kehren Kinder zurück zu ihren Eltern in die Ukraine: hier der 13-jährige Bohdan zu Mutter Iryna.

© REUTERS/Valentyn Ogirenko

Verschleppte Kinder aus der Ukraine: Der Westen muss Russland endlich Grenzen setzen

Russland hat durch die Deportation schwere Verstöße gegen Menschenrechte begangen. Es braucht die Hilfe des Westens, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu können.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Anhaltende Verstöße gegen das Völkerrecht, gegen die Menschenrechte – was darf sich Russland, Putins Russland, noch alles zuschulden kommen lassen? Und was kann der Westen noch alles zulassen, ohne seine Verantwortung für die Wahrung der Werte zu missachten?

Der jüngste Bericht, in diesem Fall von der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, müsste die Weltgemeinschaft jetzt endgültig aufbringen. Jedenfalls den Teil mit funktionierenden Zivilgesellschaften. Sie müssen darauf in geeigneter, unmissverständlicher, harter Weise reagieren.

Worum geht es? Um Kinder, die aus russisch kontrollierten ukrainischen Gebieten nach Russland verschleppt wurden, bis hin nach Sibirien und an die Pazifikküste, oder in weiterhin von Russland besetzte Gebiete. Um Waisen, die in Heimen leben, und um Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden.

Drei Juristinnen verfassten den Bericht für die OSZE

Russland hat durch die Deportation von Kindern aus der Ukraine schwere Verstöße gegen Menschenrechte begangen, gegen Kinderrechte, gegen die Genfer Konventionen mit Kriegsverbrechen und vermutlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

16.000
Kinder wurden seit Beginn der Invasion im Februar 2022 verschleppt, sagen die ukrainischen Behörden.

Die drei Juristinnen aus Tschechien, Norwegen und Lettland, die den Bericht für die OSZE verfasst haben, gehen von mehreren Hunderttausend Kindern aus, so wie auch manche Menschenrechtsorganisationen. Die ukrainischen Behörden sagen, dass seit Beginn der Invasion im Februar 2022 mehr als 16.000 Kinder verschleppt worden sind. Und einer Studie der Universität Yale in den USA zufolge sollen 6000 ukrainische Kinder in Umerziehungslager geschickt worden sein.

Eine rein subjektive Sicht, nur gestützt auf Meinungen? Weit gefehlt. Wer Fakten als bloße Meinungen ansieht, begeht Realitätsflucht, wusste die berühmte Hannah Arendt. Und die hat sich zeitlebens auch mit Kriegsverbrechen befasst.

Die bloße Tatsache, dass das geschehen ist, auch in großer Zahl, ist nicht umstritten. Auch die Russen bestreiten das nicht grundsätzlich. Sie sagen: alles wegen der Kriegsgefahr.

Mehr noch: Kinder mussten in den Lagern bleiben, sogar mehreren nacheinander. Aus sogenannten Erholungslagern wurden sie nie zu ihren Eltern zurückgebracht.

Die große Empörung bleibt – noch – aus

Man kann also mit Recht zum Urteil kommen, dass Russland sich tausendfach schuldig gemacht hat. Es wurde verschleppt und verschleiert, wurden Nachforschungen behindert und Angehörige in jeder Weise schikaniert.

Kremlchef Wladimir Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa.

© REUTERS/Sputnik

Wenn Kidnapping zur Waffe wird: Dazu gehört dann auch, dass den Kindern russisch-nationale Denkweise eingetrichtert wurde und werden sollte, zum Zweck der Umerziehung. Außerdem wurden Mädchen und Jungen neue Geburtsurkunden mit gefälschtem Geburtsdatum und -ort verpasst.

Der Report ist dem OSZE-Rat in Wien vorgelegt worden, er hat nur noch nicht die Empörung hervorgerufen, die das Ergebnis verdient hätte. Die Ukraine hat kooperiert, Russland nicht, nicht einmal geantwortet.

Amnesty hilft denen, die in ihrem Urteil noch unsicher sind, mit dem Bericht eines Experten. Der hält fest: „Im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wird Völkermord nicht nur als das Töten von Menschen definiert. Es ist auch ein Genozid, so der Strafgerichtshof, wenn man Kinder aus einer nationalen Gruppe herausnimmt und ihnen eine andere Umgebung und Ideologie aufzwingt.“

Gründe über Gründe, Russland in Gestalt von Wladimir Putin und seiner – welch böse Ironie – „Kinderrechtsbeauftragten“ Maria Lwowa-Belowa vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen. Haftbefehle sind ausgestellt, jetzt muss es darum gehen, sie zu vollstrecken.

Viele Möglichkeiten gibt es nicht, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen - in Russland selbst sind sie erstmal vor Zugriff geschützt. Aber wenn Russlands Angriffskrieg am Ende scheitert, erhöht das immerhin die Chance auf einen Machtwechsel – und vielleicht den Willen in Moskau, sich wieder Richtung der Zivilgesellschaften zu öffnen. Hier liegt die Verantwortung des Westens. Unmissverständlich.

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