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Feuerwehrleute löschen getroffene Stromnetz-Infrastruktur in der Region Rivne. Foto: State Emergency Service of Ukraine via Reuters

© Foto: REUTERS/State Emergency Service of Ukraine

„Alles hängt von der Flugabwehr ab“: Wie sich ein ukrainischer Energieversorger gegen Angriffe wappnet

Maxim Timtschenko leitet den ukrainischen Stromversorger DTEK. Im Interview sagt er, wie das Unternehmen versucht, im Krieg durchzuhalten.

Herr Timtschenko, russische Truppen haben Ihrer Regierung zufolge den Kachowka-Damm im Gebiet Cherson vermint. Abgesehen von der Flutwelle – was würde eine Sprengung für die Energieversorgung der Ukraine bedeuten?
Die großen Wasserkraftwerke, die vom staatlichen Unternehmen Ukrhydroenergo betrieben werden, spielen eine sehr wichtige Rolle in unserem System. Die Kernkraft sorgt für die Grundlast, die Wasserkraft für den größten Teil der Flexibilität. Nach dem, was die Russen seit Beginn dieser Invasion getan haben, würde es mich nicht überraschen, wenn sie diesen Staudamm sprengen und eine weitere Katastrophe auslösen. Das wäre ein Verlust für das gesamte Energiesystem der Ukraine.

Sie haben kürzlich an G7- und bilateralen Gesprächen in Berlin über westliche Unterstützung teilgenommen. Bekommt der Energiesektor der Ukraine, was er braucht?
Um Russlands Angriffe auf unser Energiesystem zu überleben, brauchen wir dringend Hilfe – vor allem Ausrüstung. Außerdem sollte man jetzt die ersten Schritte für einen Wiederaufbau tun, wir sollten nicht bis zum Ende des Krieges warten.

Diese Botschaft wurde in der EU gehört. Handelt die EU entsprechend?
Wir führen gute Gespräche mit Herstellern von Ausrüstung darüber, wie sie entweder Kunden finden können, die bereits für sie hergestellte Anlagen abgeben können. Oder wie sie uns eingelagerte oder noch in der Produktion befindliche Anlagen liefern können. Die ukrainischen Unternehmen und unser Energieministerium sprechen auch mit der Europäischen Kommission und dem Sekretariat der Energy Community. Ich hoffe, dass all das unmittelbar wirkt und dass wir die Kommunikation verbessern, um beispielsweise zu vermeiden, dass es unterschiedliche Listen mit der benötigten Ausrüstung gibt.

Wurde geliefert?
Die ersten Lieferungen gingen in den vergangenen Wochen an den Übertragungsnetzbetreiber Ukrenergo. Jetzt hoffen wir auf Ausrüstung für uns, für unsere Kohlekraftwerke, die ein Hauptziel der russischen Angriffe waren. Wir arbeiten rund um die Uhr daran, das zu erreichen.

Wir bauen auch unseren eigenen Schutz, zum Beispiel aus Betonbarrieren.“

Maxim Timtschenko

Sie kennen das Tempo der russischen Angriffe und Ihr Tempo beim Reparieren. Wie lange hält das Energiesystem noch durch?
Eine der wichtigsten Fragen ist: Wie effektiv ist unsere Luftverteidigung? Wir können viel über die Lieferung von Ausrüstung reden, aber ohne eine starke Flugabwehr wird es sehr schwierig, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Wir arbeiten eng mit den Streitkräften zusammen, um ihnen ein klares Verständnis für diese kritische Infrastruktur und für die Objekte zu vermitteln, die zu schützen sind. Wir bauen auch unseren eigenen Schutz, zum Beispiel aus Betonbarrieren.

Maxim Timtschenko ist Vorstandschef des ukrainischen Kohlekraftwerksbetreibers und Kohleförderers DTEK. Das Unternehmen gehört zur Beteiligungsgesellschaft SCM des Oligarchen Rinat Achmetow.

© DTEK

Wie ist die Taktik der Russen bei diesen Angriffen?
Sie zerstören die Umspannstationen in der Nähe der Kraftwerke, bisher nicht so sehr die Kraftwerke selbst. Ihre Taktik besteht darin, die Stromerzeugung vom Netz zu trennen. Auf diese Weise können wir derzeit nicht gleichmäßig übertragen. In einigen Regionen haben wir einen Stromüberschuss, in anderen ein Defizit.

Was tun Sie, wenn Anlagen zerstört sind?
Eine Sofortlösung kann darin bestehen, unbeschädigte Anlagen von einem Kraftwerk in ein anderes zu bringen. Fünf Kraftwerke wurden angegriffen, und vier von ihnen konnten wir wieder ans Netz bringen. Einige Anlagen können wir innerhalb von Stunden wiederherstellen, bei anderen dauert es Tage oder in manchen Fällen sogar Wochen. Außerdem suchen wir bei Betreibern von Kohlekraftwerken, insbesondere in Osteuropa, nach Ersatzanlagen, um sie so schnell wie möglich in die Ukraine zu bringen. Aber nochmals: Im Moment hängt alles von der Flugabwehr ab.

Die Flugabwehr der Ukraine ist trotz zusätzlicher Waffensysteme aus dem Ausland begrenzt. Der Energiesektor scheint Russlands wichtigstes Ziel zu sein. Wird er bei der Stationierung dieser Waffen bevorzugt?
Das ist für mich schwer zu kommentieren, weil unsere Streitkräfte die Prioritäten festlegen. Aber sie sind sich der Bedeutung unserer Infrastruktur eindeutig bewusst. Sie zerstören immer mehr Raketen und Drohnen, die darauf gerichtet sind. Aber natürlich können sie nicht alle treffen. Selbst wenn eine oder zwei durchkommen, bedeutet das Zerstörung.

Wie soll das Energiesystem der Ukraine in einer Zukunft nach solchen Angriffen, nach dem Krieg, aussehen?
Es geht nicht darum, es wieder aufzubauen, sondern darum, es völlig neu zu entwerfen. Es gibt den Klimawandel, und es gibt neue Technologien. Wir glauben, dass die Ukraine ein Land mit 100 Prozent sauberer Energie werden kann – nuklear und grün. Vor Beginn des Krieges bestand unser Strommix zu 70 Prozent aus Kernkraft und zu zehn Prozent aus erneuerbaren Energien. Wir haben großes Potenzial für Wind- und Solarenergie und können ein grünes Energie-Hub für europäische Partner werden.

Eine Sprengung des Kachowka-Staudamms bei Cherson, den Russland nach ukrainischen Angaben vermint hat, könnte eine Katastrophe auslösen.

© IMAGO/SNA

Das würde bedeuten, dass Kohle- und Gaskraft nach und nach ausgemustert wird. DTEK müsste dann den größten Teil seiner heutigen Erzeugung stilllegen.
DTEK wurde 2005 in Donezk gegründet, es begann als Bergbau- und Stromerzeugungsunternehmen und ist der größte Kohleproduzent der Ukraine. Aber wir haben uns verpflichtet, bis 2040 klimaneutral zu werden. Der Krieg ändert nichts daran. Vor dem Krieg hatten wir 1000 Megawatt an Wind- und Solarenergie in Betrieb und haben mit dem Bau eines 500-Megawatt-Windparks begonnen. Leider liegt heute die Hälfte unserer Kapazität in besetzten Gebieten. Aber ich bin zuversichtlich, dass der 500-Megawatt-Park fertiggestellt wird. Wir wollen der größte ukrainische Produzent erneuerbarer Energie für den Inlandsverbrauch und für den Export werden. Die Kohle wollen wir auch durch kleine modulare Kernreaktoren – SMRs – ersetzen, für die wir die Infrastruktur unserer Kohlekraftwerke nutzen können.

Auch nach einem positiven Ausgang des Krieges für Ihr Land werden Sie es mit einem Russland zu tun haben, das wieder zuschlagen kann. Was bedeutet das für die künftige Energieversorgung der Ukraine?
Deshalb ist die Dezentralisierung unseres Energiesystems so wichtig. Wir müssen in vielen Teilen des Landes Erneuerbare installieren. Für die Flexibilität brauchen wir Batteriespeicher im industriellen Maßstab. Vor 18 Monaten haben wir unser erstes Batteriespeichersystem mit einer Leistung von einem Megawatt gebaut. Jetzt entwickeln wir eine 20-Megawatt-Einheit – sogar unter Kriegsbedingungen. Wir brauchen auch mehr Interkonnektoren mit dem europäischen Übertragungsnetz. So kann unser Energiesystem grüner und resilienter werden.

Für die Grundlastversorgung werden Sie aber weiterhin auf zentrale Kernkraftwerke angewiesen sein.
Ich glaube, dass diese Anlagen der Ukraine einen großen Wettbewerbsvorteil auf dem europäischen Markt verschaffen. Wir müssen sie in Betrieb halten. Gleichzeitig sollte die SMR-Technologie in die Ukraine kommen. Die Kernkraftindustrie hat bei uns eine lange Geschichte – auch eine tragische Geschichte, aber wir haben daraus gelernt. Schritt für Schritt können SMRs die Technologie aus der sowjetischen Vergangenheit der Ukraine ersetzen.

100 Kilometer oder 1000 Kilometer machen keinen großen Unterschied, wenn wir über Kernkraft sprechen. Die Russen können andere Länder angreifen, die Atomreaktoren betreiben.“

Maxim Timtschenko

Konventionell oder SMR – beide haben das Potenzial für Katastrophen und sind verwundbar für Angriffe eines unberechenbaren Russland. Beunruhigt Sie das nicht?
Russland ist nicht nur Nachbar der Ukraine, sondern auch Nachbar Europas. 100 Kilometer oder 1000 Kilometer machen keinen großen Unterschied, wenn wir über Kernkraft sprechen. Die Russen können andere Länder angreifen, die Atomreaktoren betreiben – die Slowakei, Ungarn... Im Moment ist die Bedrohung für die Ukraine größer, ja. Aber ich hoffe, dass die Ukraine, nachdem wir diesen Krieg gewinnen, so sicher sein wird wie jedes andere europäische Land – in einer resilienten Sicherheitslandschaft auf diesem Kontinent. Eines liegt auf der Hand: Ohne Kernenergie können wir nicht über bezahlbare Elektrizität sprechen...

...sagt jemand, dessen Land die Katastrophe von Tschernobyl erlebt hat.
Die heutigen Nukleartechnologien sind viel sicherer als die, die vor 50, 60 Jahren entwickelt wurden. Wie ich schon erwähnte, interessieren wir uns für SMR-Technologie, wir analysieren ihr Design. In puncto Sicherheit hat sie die höchsten Standards. SMRs werden wahrscheinlich Teil der langfristigen Dekarbonisierungsstrategie von DTEK sein. Es wird Jahre dauern, aber um vorbereitet zu sein, muss man jetzt damit beginnen. Deshalb rate ich meinen Kollegen in der europäischen Energiewirtschaft auch, die Ukraine ernst zu nehmen. In gewissem Sinne ist sie das Land der europäischen Energiezukunft.

Welchen Rat würden Sie den EU-Mitgliedsstaaten für deren Energiestrategien geben?
Wiederholen Sie nicht Fehler wie die Nord Stream-Pipelines. Europa sollte aus seinen Fehlern lernen und sich nicht von einer Energiequelle abhängig machen, vor allem nicht von einer so unzuverlässigen. Billiges Gas aus Russland ist keineswegs billig. Man zahlt einen hohen Preis, es ist nur eine Frage der Zeit. Europa sollte so autark sein wie möglich und den Weg ebnen für eine schnellere Entwicklung – die Entwicklung einiger unserer Erneuerbaren-Projekte dort hat dreimal so lange gedauert wie in der Ukraine. Die Europäer sollten sehr sorgfältig vorgehen bei der Wahl ihrer Partner und ihre Wasserstoffimporte diversifizieren. Die Ukraine sollte natürlich Teil der europäischen Energiesicherheitsstrategie sein.

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