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Polizisten im Einsatz bei einer Versammlung vor dem Sitzungsgebäude des Kreistages in Grevesmühlen.

© dpa/Malte Behnk

Update

Ausschreitungen bei Protest gegen Flüchtlingsheim: „Eine Attacke auf unseren Rechtsstaat“

Der Kreistag von Grevesmühlen musste unter Polizeischutz über eine Flüchtlingsunterkunft abstimmen. Wie die Bundespolitik auf die Ereignisse und die Kritik von Kommunalpolitikern reagiert.

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In der kleinen Gemeinde Upahl in Mecklenburg-Vorpommern soll eine Flüchtlingsunterkunft entstehen. Doch den entsprechenden Beschluss konnte der Kreistag von Nordwestmecklenburg am Donnerstagabend nur unter Polizeischutz fassen.

Bis zu 700 Menschen hatten vor dem Sitzungsgebäude in Grevesmühlen demonstriert. Einige Demonstranten versuchten, den Sitzungssaal des Kreistages zu stürmen. Für die Proteste hatte zuvor auch die regionale Neonazi-Szene mobilisiert, wie der Tagesspiegel berichtete. Am Ende stimmte der Kreistag mit knapper Mehrheit für den Bau der Flüchtlingsunterkunft.

Der Landrat von Nordwestmecklenburg, Tino Schomann (CDU), äußerte später Verständnis für die Proteste und erhob zugleich Vorwürfe gegen die Bundespolitik. Sein Landkreis wisse nicht mehr, „wo wir die Menschen lassen können“, sagte er der ARD. „Der Bund muss endlich die Lage der Kommunen erkennen“, sagte Tino Schomann. „Der Bund muss begrenzen und steuern, muss die illegale Migration stoppen und muss die Abschiebeoffensive endlich starten, um auch Kapazitäten freiwerden zu lassen.“ In Upahl, einer Gemeinde mit 1600 Einwohnern, soll nun ein Containerdorf für 400 Menschen entstehen.

Der Präsident des Kreistages, Thomas Grote (CDU), sieht die Kommunalpolitiker vor Ort von der Bundesregierung im Stich gelassen: „Ich bin erschüttert, dass die Bundesregierung so mit uns umgeht. Dass wir Kommunalpolitiker solche grundlegenden Entscheidungen für die Menschen zu treffen haben“, sagte er dem „Spiegel“. Das bringe „Sprengstoff“ in die Gesellschaft.

Auch Mecklenburg-Vorpommerns CDU-Chef Franz-Robert Liskow mahnte eine spürbare Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland an. „Bund und Land wälzen die immer weiter ansteigende Zahl an Migrantinnen und Migranten auf die Kommunen ab, die mit mangelnden Unterbringungskapazitäten an die Grenze der Belastungsfähigkeit gebracht werden“, sagte er am Samstag bei einer Versammlung der Kommunalpolitischen Vereinigung (KPV) der CDU Mecklenburg-Vorpommern. Die Ampelregierung müsse endlich umsteuern.

Die Grünen-Innenpolitikerin Lamya Kaddor sprach mit Blick auf die Ereignisse in Grevesmühlen von „irritierenden Bildern“. Diese erinnerten an den Sturm auf das US-Kapitol oder den versuchten Sturm auf den Bundestag. „Das ist eine Attacke auf unseren Rechtsstaat“, sagte Kaddor dem Tagesspiegel. Dass es vor Ort Irritationen und Kritik gebe, wenn Geflüchtete aufgenommen werden sollten, sei nachvollziehbar. „Es kann jedoch nicht sein, dass demokratische Entscheidungen nicht akzeptiert werden.“

„Die Ausschreitungen einiger weniger in Grevesmühlen sind beschämend und werden nicht ohne Folgen bleiben“, sagte der FDP-Innenexperte Manuel Höferlin. Er sieht „berechtigte Sorgen“ in den Kommunen, auf die die Koalition bereits reagiert habe, beispielsweise mit zusätzlichen Finanzmitteln. Der Bund lasse die Kommunen mit den Herausforderungen nicht allein. „Die Länder, die jedoch für die auskömmliche Finanzierung der Kommunen oder auch für Rückführungen abgelehnter Asylbewerber zuständig sind, müssen auch ihren Anteil leisten, damit die Sorgen in den Kommunen weniger werden."

Die Ampel-Bundesregierung lässt die Kommunen im Stich.

Alexander Throm (CDU), innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion

Aus der Unionsfraktion im Bundestag kam Unterstützung für die CDU-Kommunalpolitiker vor Ort: „Die Ampel-Bundesregierung lässt die Kommunen im Stich“, sagte der innenpolitische Sprecher Alexander Throm (CDU) dem Tagesspiegel. „Sie schafft zusätzliche Aufnahmeprogramme in Zeiten des höchsten Flüchtlingszustroms in der Geschichte Deutschlands.“ Zugleich versage die Bundesregierung bei der Rückführung von Flüchtlingen. „Alle Länder begrenzen irreguläre Migration, nur Deutschland öffnet. Wir sind der migrationspolitische Geisterfahrer in Europa.“

Der Präsident des Deutschen Landkreistags, Reinhard Sager, forderte ein Treffen mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) zum Thema Unterbringung von Flüchtlingen. Er sagte der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (Montag): „Wir haben kaum noch freie Kapazitäten. Die Leute kommen teilweise in Zelten unter. Wir warten außerdem immer noch auf eine ausreichende Finanzierung der Unterkunftskosten.“ Die Bundesregierung müsse mehr für eine gleichmäßige Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union tun. „Die einseitige Belastung Deutschlands ist mit erheblichem gesellschaftlichem Sprengstoff verbunden“, meinte Sager.

Kritik an den Reaktionen vor Ort

Scharfe Kritik an der Reaktion der Kommunalpolitiker vor Ort äußerte hingegen die innenpolitische Sprecherin der Linken, Martina Renner: „Offensichtlich haben die Verantwortlichen nichts aus den rassistischen Ausschreitungen gegen Geflüchtete und ihre Unterbringung Anfang der 1990er Jahre und zuletzt 2015/2016 gelernt.“

Angesichts der starken Präsenz von Neonazis im nahe gelegenen Jamel sei es absehbar gewesen, dass sie die Proteste für ihre Zwecke nutzen würden. „Wenn Kommunalpolitiker*innen wie der CDU-Landrat nach einer versuchten gewalttätigen Stürmung des Kreistages Verständnis für vermeintliche Sorgen der Anwohner*innen äußern, muss man sich nicht wundern, wenn die rechte Straßenmobilisierung dies als Bestätigung sieht“, sagte Renner.

Die Landesvorsitzenden der Linken in Mecklenburg-Vorpommern, Vanessa Müller und Peter Ritter, warnten indes vor einseitigen Zuweisungen von Verantwortlichkeiten oder gar dem erneuten Ruf nach Abwehrmaßnahmen gegenüber Menschen auf der Flucht. Ziel aller politisch Verantwortlichen der verschiedenen Ebenen müsse es sein, den Herausforderungen der Aufnahme von Flüchtlingen und den Erwartungen der aufnehmenden Kommunen gemeinsam gerecht zu werden. Es sei notwendig, der Hetze von Rechtsextremen und Reichsbürgern gegenüber Asylsuchenden entschieden entgegenzutreten.

Der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg, hatte jüngst gewarnt, viele Kommunen seien bei der Unterbringung von Flüchtlingen und Vertriebenen „längst an ihrer Leistungsgrenze“. In Deutschland hatten im vergangenen Jahr so viele Menschen Asyl beantragt wie seit 2016 nicht mehr. 217 774 Menschen stellten erstmalig in Deutschland ein solches Schutzersuchen, knapp 47 Prozent mehr als im Jahr davor. Zudem fanden 2022 rund eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland Aufnahme, die keinen Asylantrag stellen mussten. (mit dpa)

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