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Ein Evakuierungsflug der Bundeswehr aus Kabul am 17. August 2021

© AFP/Bundeswehr/Marc Tessensohn

Erster Jahrestag des Abzugs aus Afghanistan: Deutschlands Verantwortung für die Ortskräfte ist nicht vorbei

Vor einem Jahr überließ der Westen Afghanistan den Taliban. Deutschlands ehemalige Ortskräfte leben seither in Angst – und brauchen mehr Hilfe. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ingrid Müller

Oh, werden viele Menschen wohl sagen: Ist das erst ein Jahr her? Und vielleicht ebenso viele werden fragen: Ist das schon ein Jahr her? Die meisten werden ehrlicherweise zugeben, dass sie seither kaum noch daran gedacht haben: Vor zwölf Monaten haben die Taliban fast ohne Kämpfe die afghanische Hauptstadt Kabul übernommen – und die internationale Gemeinschaft hat in einer selten chaotischen Aktion das Land verlassen. Fluchtartig.

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Vor allem der Westen hat die Menschen, die sich nach mehr Freiheit sehnten und denen 20 Jahre lang so viel versprochen wurde, den Radikalislamisten überlassen. Manche sagen, er hätte die Afghanen verraten und vor allem die Afghaninnen, deren Rechte auch die Bundesregierung bis heute immer wieder anmahnt. Für die sie aber so wenig tut.

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Es war eine Flucht mit Ansage. Wer das Abkommen gelesen hat, das der damalige US-Präsident Donald Trump im Februar 2020 mit den selbst ernannten Gotteskriegern ausgehandelt hatte, wusste, dass es absehbar keinen internationalen Schutzschirm mehr geben würde.

Dennoch haben auch deutsche Politiker wie die damalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer weiterhin behauptet, man werde das Land nur verlassen, wenn die Menschenrechte von den neuen Machthabern geachtet würden.

Die Politik hat zu lange so getan, als gebe es einen geordneten Rückzug

Hat sie selbst wirklich daran geglaubt? Oder wollte sie das nur? Auch sie wirkte schockiert davon, wie der Abzug erst der Nato-Truppen und quasi aller anderen Sicherheitskräfte vor einem Jahr vonstatten ging. Doch es wäre zu einfach, das Chaos der deutschen Seite der CDU-Ministerin allein anzulasten.

Die gesamte Politik und in ihrem Gefolge auch Generäle und viele Untergebene haben allzu lange so getan, als lasse das, was in Kabul und Afghanistan vor sich ging, letztlich doch einen geordneten Rückzug zu . Sie hatten wohl vor allem die deutschen Wähler:innen im Blick, denen zunehmend das Verständnis dafür abhanden kam, dass ihre Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt werden müsse.

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In den Ohren von Afghan:innen mussten und müssen die Rechtfertigungen des Abzugs wie Hohn klingen. Denn nichts ist gut in Afghanistan. Praktisch täglich melden sich Frauen und auch Männer, die von den Taliban bedroht, verfolgt, gequält werden. Und es gibt viele Menschen in Afghanistan, die immer noch auf eine Ausreisemöglichkeit ins sichere Ausland warten.

Einfacher ist das im vergangenen Jahr kaum geworden: In Kabul gibt es beispielsweise längst keine deutsche konsularische Vertretung mehr, weil Berlin das Taliban-Regime nicht anerkennt. Nicht anerkennen kann.

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Den meisten Afghanen geht es heute auch wirtschaftlich viel schlechter als vor einem Jahr. Der Alltag gestaltet sich katastrophal, viele Menschen hungern, weil sie kein Einkommen haben. Ihnen muss humanitär geholfen werden – nicht nur mit Hilfszusagen auf Konferenzen. Es gibt Ansprechpartner, die sich im Land weiterhin für die Zivilgesellschaft engagieren. Mit ihnen muss die Hilfe organisiert werden, damit sie da ankommen kann, wo sie gebraucht wird. Die Welt muss Verantwortung übernehmen.

Dazu gehört auch, dass Deutschland endlich in großem Stil die ehemaligen Ortskräfte ausfliegt. Und zwar nicht nur diejenigen, die für deutsche Organisationen gearbeitet haben, sondern auch ihre meist großen Familien. Für Afghanen auf der Flucht – und nichts anderes ist die Ausreise – ist Familie so wichtig, wie man es sich in Deutschland kaum vorstellen kann.

Zudem müssen diejenigen, die Deutschland herholt, eine langfristige Perspektive bekommen. Das Kümmern endet nicht mit Einreise und Unterbringung in einer Geflüchtetenunterkunft, wo sie jetzt noch mit Menschen aus der Ukraine konkurrieren.

Doch noch sitzen zu viele Afghaninnen und Afghanen unter dem Taliban-Regime fest. Die Flucht der internationalen Gemeinschaft ist nun schon ein Jahr her. Das bedeutet: 365 Tage Angst für diejenigen, die nicht gehen konnten.

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