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Selbstdarsteller. So präsentiert sich Thomas Sattelberger auf der Videoplattform TikTok. Neben ihm Fabian Grischkat von der Digitalagentur „Project Z“.

© TSP

Der Videobotschafter: Ein 71-Jähriger FDP-Politiker erobert die Jugendapp TikTok

Thomas Sattelberger, FDP, ist mit 71 einer der ältesten Politiker im Bundestag. Auf der Teenie-Plattform TikTok ist kaum ein Politiker erfolgreicher als er.

Auf einer Terrasse am Starnberger See, erste Reihe, Alpenblick, sitzt an einem Vormittag im August ein älterer Mann im Korbsessel vor seiner Villa und öffnet eine Flasche Sekt. Plopp. Der Mann ist frisch gebräunt, die Ärmel seines Hemds trägt er aufgekrempelt, im Ausschnitt funkelt die Goldkette. Ein Politiker mit Bundestagsmandat bei der FDP.

Sähe man nur diesen kurzen Ausschnitt, man müsste ihn ein Klischee nennen. Ein vormittags sekttrinkender FDPler am Starnberger See. Geht’s noch lustiger?

Thomas Sattelberger, 71, wird den Sekt nicht trinken. Er wird nur am Glas nippen, dann fragen: „Gut so?“ Antworten werden ihm zwei Typen, 17 Jahre alt, einer mit blauen Haaren und knallenger, geblümter Hose, einer mit grauem Hoodie. Die ganze Zeit sind sie mit ihren Smartphones um Sattelberger herumgegangen, haben ihn gefilmt. Nun sind sie zufrieden. „Nice“, sagt der mit den blauen Haaren.

Wenn alles gut geht, dann produzieren sie hier gerade einen Hit. Thomas Sattelberger, der alte FDP-Mann, und die zwei 17-Jährigen, Fabian Grischkat und Urs Meier von der Digitalagentur „Project Z“. Die Idee der beiden: ein Video, wenige Sekunden lang, schnelle Schnitte, mit Musik unterlegt.

Ein Clip, in dem Sattelberger ein Klischee spielt. Er trinkt Sekt, spielt auf dem Smartphone das Spiel „Candy Crush“, lümmelt auf der Couch, darüber steht der Satz: „Was ihr denkt, wieso ich Politiker wurde“. Dann ein Cut und wieder ein Satz: „Warum ich wirklich Politiker wurde“. Dann die echten Gründe, für Gerechtigkeit kämpfen, für Bildung einsetzen, so was. Wenn es fertig ist, wollen sie das Video hochladen auf jener App, über die gerade die ganze Welt spricht: TikTok.

BMX-Stunts und tanzende Argentinierinnen

TikTok erfolgreich zu nennen, wäre untertrieben: Zwei Milliarden Mal wurde die App seit ihrem Start im Jahr 2018 heruntergeladen, schätzungsweise 800 Millionen Menschen nutzen sie derzeit aktiv, nie zuvor wurde ein soziales Netzwerk in so kurzer Zeit so groß.

So erfolgreich die App ist, so rätselhaft ist sie oft für jene, die noch im alten Jahrtausend geboren wurden. Die Startseite der App, der sogenannte „Für dich“-Feed, ist eine unendliche Abfolge verschiedenster Clips, zusammengestellt von einem Algorithmus, den nur eines zu interessieren scheint: Wie macht man die Menschen süchtig? Wer scrollt, sieht tanzende Argentinierinnen und BMX-Stunts aufführende Österreicher, Schwarze Black-Lives-Matter-Aktivistinnen und Jungs, die Mentos in Colaflaschen stecken. Frisurentipps folgen auf Theaterstücke in Zeitraffer, Videos von Buschfeuern auf solche von Piano spielenden Katzen.

Ein Reiz jagt den nächsten – nur was langweilig ist, kommt nicht vor. Im Schnitt verbringen Nutzer 45 Minuten pro Tag auf TikTok, mehr als auf jedem anderen sozialen Netzwerk. Das Netzwerk, könnte man sagen, ist der Schlüssel zur Generation Z, der ersten, die eine Welt ohne Internet nicht mehr kennt.

Thomas Sattelberger, Ex-Manager und FDP-Politiker.

© Thilo Rückeis

Deutsche Politiker tun sich schwer mit TikTok, fast niemand ist vertreten. Dorothee Bär von der CSU, Staatsministerin für Digitalisierung, hat es versucht, lädt aber seit Wochen nichts mehr hoch. Tobias Hans, der Ministerpräsident des Saarlands, machte lange keine gute Figur, viel zu steif waren seine Videos, er gewann kaum Follower, vor zwei Wochen stieg Hans aus, wegen Datenschutzbedenken, wie er sagte. Nur einer scheint die App verstanden zu haben: Thomas Sattelberger.

Er postet Videos von seinem Golden Retriever, filmt sich boxend oder in einem silbernen Astronautenanzug im Bundestag. Knapp 70.000 Menschen folgen ihm, seine Videos, mit Popsongs unterfüttert, werden millionenfach aufgerufen. Wie macht er das?

Den Sekt hat Sattelberger beiseite gestellt. Er möchte jetzt erklären, was er da tut. Was ihn an TikTok reize, sagt Sattelberger, sei die Verbindung zu jungen Menschen wie Grischkat und Meier. Wer der Politikverdrossenheit nachwachsender Generationen etwas entgegensetzen wolle, vielleicht sogar zum Vorbild werden möchte, der müsse dorthin, wo diese Leute eben sind. Gleichzeitig hielten sie ihn jung. „Ich lasse mich auf eine ganz neue Welt ein, neue Sprache, neue Symbolik, auch auf eine ganz neue Selbstironie. Das macht mehr Spaß als eine Aufsichtsratssitzung.“ Als er sich zum ersten Mal mit der App beschäftigt habe, sagt er, habe er sich gedacht: „Es ist mir fremd, ich muss da hin.“

Mit jedem Beitrag für TikTok, so hat er es sich vorgenommen, will er eine politische Botschaft senden. In einem Video erzählt er von seinem neuen E-Mini. In einem anderen steht: #LiebeWenDuWillst. In wieder einem anderen fordert er digitalisierte Schulen.

Sich selbst bezeichnet er als "TS"

Die Bedenken beim Datenschutz – besonders US-Politiker sorgen sich, dass Daten über den chinesischen TikTok-Mutterkonzern Bytedance an die Regierung in Peking gelangen könnten – kontert Sattelberger mit dem großen Eisen. Bei Donald Trumps industriepolitischer Jagdkampagne auf China, sagt Sattelberger, mache er nicht mit. „Trump geht es nicht um Datenschutz, sondern um eine geteilte digitale Welt: China den Chinesen, den Rest der Welt den USA. Das Datenschutz-Deckmäntelchen ist löchrig.“

Thomas Sattelberger beim Shooting für ein TikTok-Video mit Fabian Grischkat (rechts) und Urs Meier von der Digitalagentur „Project Z“.

© Marius Buhl

Solche Sätze gefallen ihm. Sattelberger spannt gern den großen Bogen. Er kann zu jedem Thema etwas sagen, redet laut und mit Spaß an der Formulierung. Wenn er von sich selbst spricht, sagt er nicht ich, sondern „TS“. Mal eine Pointe auslassen? Eher nicht. Seinen jetzt ausgeschiedenen TikTok-Konkurrenten Tobias Hans nennt er „Hans im Glück“, zu den Corona-Demonstranten von Berlin fällt ihm der Satz ein: „Jede Krise produziert ihre Idioten.“ Lässt er solche Bomben fallen, blickt er ihnen eine Sekunde still hinterher, um zu beobachten, ob sie explodieren.

Woher kommt dieser Geltungsdrang?

Sattelberger kommt aus dem Schwäbischen, es gebe, sagt er, zwei Sorten von Schwaben: die Stubenhocker und die, die es rauszieht aus der engen Welt. Stubenhocker war er nie. Als 13-jähriger Pfadfinder diskutiert er mit dem Pfarrer, ob es Gott gibt. Mit 16 geht er zum Schüleraustausch in die USA, protestiert gegen den Vietnamkrieg, seinen Anstecker mit „Stop the war“-Aufdruck nimmt er trotz Aufforderung der Lehrer nicht ab.

Zurück in Deutschland wird er Teil der APO, demonstriert gegen die Verhütungspolitik der Kirche, die NPD, wird Maoist. Als Sattelberger die Ortsgruppe Stuttgart der „Revolutionären Jugend Deutschlands“ gründet, kommt es zum Bruch mit seinem Vater. Doch die Kommunisten schmeißen ihn 1971 raus, weil Sattelberger Kontakte zum nicht ganz so linken Joschka Fischer pflegt. Nach seinem Rauswurf beginnt er eine duale Ausbildung beim einstigen Feind: Daimler.

Jens Spahn tippt ihn an: "Oh, der Videopapst!"

Dieser erste große Widerspruch – ein Maoist wird Daimler-Azubi – bleibt keine Ausnahme in Sattelbergers Leben, im Gegenteil: Er erhebt den Widerspruch zum Lebensmodell.

Bei Daimler wird er zum Manager, wechselt nach 22 Jahren und einem Streit mit Konzernchef Jürgen Schrempp zur Lufthansa, später als Personalvorstand zum Reifenhersteller Continental und in selber Rolle zur Telekom. Ein Leben als Spitzenmanager, 40 Jahre lang. Einer, der sehr breitbeinig sitzen kann, ein Arbeitstier, einer, dessen kleinstes Problem mangelndes Selbstbewusstsein ist. Ein alter weißer Mann? Nicht ganz.

Sattelberger ist homosexuell, das Thema Diversity eines seiner Hauptanliegen. Er fährt lieber mit dem Zug als mit dem Auto. Er kann einen Vortrag über die Vorreiterrolle der Familie Kardashian beim Thema „Self Exposure“ halten, der kameratauglichen Selbstentblößung. Er, der bei seinem Aufstieg von Männerbünden profitiert hat, überzeugt bei der Telekom Konzernchef René Obermann, als bundesweit erster Dax-Konzern eine Quote für Frauen in Führungspositionen einzuführen.

Sieht er eine Nische, besetzt er sie. Umso besser, wenn es jemandem auffällt. Als er 2012 in den Ruhestand wechselt, hält er es nicht aus. Golfen, den Lebensabend am See genießen? Kein Interesse. Es zieht ihn in die Politik, er tritt der FDP bei, „dem damaligen Sanierungsfall der deutschen Parteienlandschaft“, sagt er. Für die Liberalen kandidiert er bei der Bundestagswahl 2017 im Wahlkreis München-Süd, holt 9,1 Prozent, über die Landesliste rutscht er ins Parlament.

Mit Wumms. Sattelberger inszeniert sich für das Video als Politiker, der was bewegen will.

© Marius Buhl

Schon da, sagt Sattelberger, habe er über Digitalstrategien nachgedacht. Auf Facebook entwickelt er das Format „High Noon“, bei dem er sich filmt und kurze Statements abgibt zu aktuellen politischen Fragen. Das Intro kopiert er von Metro-Goldwyn-Mayer, statt des Löwen brüllt Sattelberger. Als Jens Spahn sich über englischsprachige Kellner in Berlin beschwert, kommentiert Sattelberger: „What a Schmock!“ Am ersten Tag im Parlament tippt Spahn Sattelberger an, sagt: „Oh, der Videopapst!“

2019 stößt Sattelberger auf Charles Bahr. Bahr ist damals 17 und Jungunternehmer, gerade hat er die Agentur „Project Z“ gegründet, er will damit Firmen helfen, Menschen der Generation Z zu erreichen. Sattelberger ist begeistert. Die erste Idee, die „Project Z“ für ihn entwickelt: ein Podcast. Immer sonntags unterhält sich Sattelberger, der FDPler, nun mit Fabian Grischkat von Project Z. Grischkat ist Influencer und aktiv bei Fridays for Future. Der alte FDPler und der junge Aktivist, der Liberale und der Linke, der Fleischesser und der Veganer. Selten sind sie einer Meinung. Super so, findet Sattelberger. Die zweite Idee, die „Project Z“ Sattelberger vorschlägt: TikTok.

Gleich eines seiner ersten Videos geht durch die Decke. Sattelberger sitzt am Schreibtisch, eingeblendet werden Fragen, die er abwechselnd mit „Yup“ und „Nope“ beantwortet, synchron zum Song „Choices“ des Rappers E-40. Solche Synchronvertonungen sind ein TikTok-Trend der ersten Stunde. „Magst du die AfD?“, steht da nun im Bild, Sattelberger senkt den Daumen: „Nope!“ „Bist du 71?“ Sattelberger hebt den Daumen: „Yup“. „Verstehst du TikTok?“ – „Nope!“ „Versuchst du es trotzdem?“ – „Yup!“

1,9 Millionen Mal klicken Menschen bis heute auf das Video, tausende kommentieren. „Wenn junge Leute ,Ehrenmann‘ unter meine Videos posten, dann rührt mich das“, sagt er.

Das FDP-Logo taucht in seinem Kanal nicht auf

Fragt man Fabian Grischkat, Sattelbergers TikTok-Helfer, was ihm an Sattelberger auffalle, sagt er: „Ich habe noch nie einen 71-Jährigen gesehen, der so ein frisches Denken hat.“ Ihm imponiere, dass Sattelberger sich wirklich einließe auf ihre Ideen. Bei vielen Kunden sei das anders. „Die nicken dann, aber wir wissen: Die nehmen uns nicht für voll.“

Trotz aller Liebe, die Sattelberger von jungen Menschen entgegenschlägt: Nur vier Prozent der Erstwähler 2021 können sich vorstellen, die FDP zu wählen. Es ist wieder mal der Widerspruch, der ihn interessant macht. Der Ehrenmann von der FDP. Und Sattelberger kultiviert das Image. Man könnte ihm vorwerfen, dass er eine Show veranstaltet. Ein deutscher Kardashian der Politik. Dass TikTok unmöglich politisch sein kann. Und Sattelberger macht gar keinen Hehl daraus, dass es um Selbstinszenierung geht. „Ich arbeite seit 40 Jahren an der Marke TS“, sagt er, „damit höre ich jetzt nicht auf.“ Andererseits: Ist Selbstinszenierung nicht inhärenter Bestandteil von Politik? Und fragt man, will man TS verstehen, nicht besser: Wie will er gesehen werden?

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Sattelberger ist es wichtig, als unabhängig zu gelten. TikTok, sagt er, sei bei ihm Teil eines größeren Denkgebäudes. Er ist überzeugt, dass Parteien als politisches Instrument langfristig an Einfluss verlieren, stattdessen trete der einzelne Parlamentarier viel stärker in den Vordergrund. Den Fraktionszwang bei Abstimmungen im Parlament hält er für ein „überstrapaziertes Instrument“. Es erfrische den Parlamentarismus, „wenn man sich wie in Unternehmen Open Spaces gönnt und Politiker sich nicht sklavisch an die Parteilinie klammern“. Das FDP-Logo taucht auf Sattelbergers TikTok-Kanal nirgends auf – und es wäre wohl auch keine Hilfe.

Er hofft auf einen guten Listenplatz

Die Umfragewerte sind katastrophal, gerade in der Corona-Krise hat es der Liberalismus schwer, die Bürger wünschen sich einen starken Staat. Dazu kommt, dass Parteichef Christian Lindner die Partei seit den Jamaika-Verhandlungen 2017 an den Rand der Bedeutungslosigkeit manövriert hat. Sattelberger hadert mit Lindners Auftritt. Er kritisierte seinen Chef, als der Schüler belehrte, das Thema Klimaschutz den Profis zu überlassen. Als Thomas Kemmerich sich in Thüringen von der AfD zum Ministerpräsident wählen ließ, sagte Sattelberger im „Handelsblatt“, er empfinde „pures Entsetzen“.

Bei Daimler führte solches Hadern einst dazu, dass Sattelberger offen gegen Konzernchef Jürgen Schrempp rebellierte, „wie David gegen Goliath, nur dass ich nicht mal eine Schleuder hatte“. Sattelberger verlor das Duell, er musste gehen. Auch Lindner ist ein Goliath, aber diesmal zieht Sattelberger nicht in den Kampf.

Will er 2021 wieder in den Bundestag, braucht er die Partei. Weil die Konkurrenz in seinem Wahlkreis zu stark ist, um das Direktmandat erobern zu können, muss er auf einen guten Listenplatz hoffen. „Dass ich in Deutschland gerne nochmal etwas gestalten will“, sagt er, „erzähle ich jedem, der es hören will“.

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