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Norbert Lammert.

© Nassim Rad / Tagesspiegel

„Einige Befunde sind schlicht desaströs“: Wie Norbert Lammert die Wahlniederlage der CDU erklärt

Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert analysiert im Interview die Krise der CDU und verrät, warum er Mitgliederbefragungen skeptisch sieht.

Von Robert Birnbaum

Die CDU sucht ihren nächsten Chef und das Heil dabei in der Mitgliederbefragung. Ist das ein Mittel zur Lösung einer Krise oder nicht vielmehr ihr Symptom?
Mindestens ist es ein Ausdruck einer gefühlten Krisensituation, die auch nicht nur eingebildet ist. Leider vertagt dieses Vorgehen eher die Identifizierung und Lösung der eigentlichen Probleme. Insofern bin ich mit der vereinbarten Verfahrensweise nicht rundum glücklich.

Was stört Sie denn daran?
Es ist ein geradezu klassischer Reflex bei allen Parteien in einer Sondersituation, möglichst schnell das Personal auszuwechseln. Das hat aber zwei unangenehme Nebenwirkungen. Erstens vertagt der Vorrang der Schnelligkeit vor der Gründlichkeit die offenkundig noch unangenehmere Auseinandersetzung mit den Ursachen. Und zweitens präjudiziert er die Neuaufstellung, bevor die Beschäftigung mit den Sachverhalten überhaupt begonnen hat.

Beides hätte ich eigentlich lieber umgekehrt gesehen, und habe dies auch öffentlich bei einer Veranstaltung unserer Stiftung zum Gründungsjubiläum der CDU-Bundespartei in Goslar mit dem Parteivorsitzenden geäußert. Aber ich kann nicht bestreiten, dass der jetzt vom Vorstand beschlossene Weg einer in der Partei weit verbreiteten Stimmungslage folgt.

Sie haben als Bundestagspräsident lange sozusagen die repräsentative Demokratie repräsentiert – schmerzt es nicht auch zu sehen, wenn sich jetzt gewählte Gremien quasi für unzuständig erklären?
Die Zuständigkeit der Gremien wird ja nicht aufgehoben. Aber es ist schon richtig, sie werden präjudiziert. Dass ein Parteitag nach einer Mitgliederbefragung eigentlich nur noch eine notarielle Funktion hat, lässt sich nicht übersehen. Der Parteitag hat trotzdem immer noch wichtige Entscheidungen zu treffen, zum Beispiel über die neue Zusammensetzung des Präsidiums und des Bundesvorstandes.

Ein weiterer Einwand lautet: Mitgliedervoten befrieden Konflikte nicht, sondern verschärfen bestehende Spaltungen.
Das kann ich mindestens aus eigener Erfahrung nicht bestätigen. Ich bin nämlich einer der frühesten Beteiligten an einer Mitgliederbefragung gewesen, wenn nicht sogar der allerersten überhaupt.

Wann war das denn?
Als Norbert Blüm seinen Rückzug aus der Spitze der nordrhein-westfälischen CDU ankündigte und nicht ein weiteres Mal gegen Ministerpräsident Johannes Rau als Kandidat antreten wollte, hat die NRW-CDU unter dem Generalsekretär Herbert Reul eine Mitgliederbefragung zwischen zwei Kandidaten organisiert, nämlich Helmut Linssen und Norbert Lammert.

Mit Basisrunden und allem Drum und Dran?
Ja, wir sind dann brav durch das Land getingelt und haben uns bei Verbänden und Organisationen vorgestellt. Dass das einen spaltenden oder auch nur beunruhigenden Effekt gehabt hätte, kann ich nicht bestätigen. Ein mobilisierender Effekt, der den Sieger Helmut Linssen dann später ins Ministerpräsidentenamt getragen hätte, ließ sich allerdings auch nicht feststellen.

Aber standen Sie beide damals für zwei grundverschiedene Richtungen, so wie es sich jetzt unter den denkbaren Kandidaten andeutet?
Nein, sicher nicht. Aber die damalige Konstellation wäre auch nicht zustande gekommen, wenn es zu der plausiblen Kandidatur des Fraktionsvorsitzenden Linssen in der Partei nicht die breite Erwartung einer Alternative gegeben hätte.

Ist die Situation vergleichbar? Die beiden letzten Vorsitzenden-Wahlen haben zu der wenig versöhnlichen Erzählung geführt, zwei Parteitage hintereinander hätten gegen die Basis entschieden.
Das bringt mich in die kuriose Situation, erneut ein bisschen Verständnis für die Mitgliederbefragung erbitten zu müssen, die ich eigentlich skeptisch sehe. Denn die Vermeidung von Mitgliederbefragungen hat ja erkennbar auch nicht die befriedende Wirkung gehabt, die man nun umgekehrt von der Mitgliederbefragung erhofft.

Hätte sich die Vorsitzende als Kanzlerin so verhalten, wie es die Mehrheit der Unionsmitglieder von ihr erwartete, wäre sie mit hoher Wahrscheinlichkeit längst nicht mehr im Amt gewesen.

Norbert Lammert

Aber besteht nicht die Gefahr, dass ein neuer Chef den Mitgliedern gefällt, den Wählern dafür weit weniger?
Jedenfalls lässt sich nicht übersehen, dass zwischen den Erwartungen von Mitgliedern und den Erwartungen der potenziellen Wählerinnen und Wähler zum Teil beachtliche Unterschiede bestehen. Die Adenauer-Stiftung hat vor gut drei Jahren in einer intensiven Studie belegt, dass sich die damalige Parteiführung unter Angela Merkel in manchen Punkten - Migration, Familienpolitik - deutlich von den Erwartungen der Mehrheit der eigenen Mitglieder entfernt hatte.

Zugleich fanden genau diese Positionen große Zustimmung unter den Wählerinnen und Wählern. Leicht zugespitzt formuliert: Hätte sich die Vorsitzende als Kanzlerin so verhalten, wie es die Mehrheit der Unionsmitglieder von ihr erwartete, wäre sie mit hoher Wahrscheinlichkeit längst nicht mehr im Amt gewesen.

Parteispitze und sogar Parteitage müssen also auch mal gegen die Stimmung in der eigenen Truppe entscheiden?
Unter praktischen wie empirischen Gesichtspunkten spricht manches dafür, dass die Delegierten eines Parteitags sowohl auf kommunaler Ebene wie auf Landes- oder auf Bundesebene näher an der Wählerschaft sind als die Mitglieder.

… weil sie sich ja selber auch Wahlen stellen müssen?
So ist es. Deswegen sind sie in regelmäßigem Kontakt mit Wählerinnen und Wählern, während wir wiederum aus der Wahlforschung wissen, dass die Mehrheit der Mitglieder politisch eher inaktiv ist. Sie geben ihre Sympathie durch die Mitgliedschaft zum Ausdruck, partizipieren aber schon an den innerparteilichen Aktivitäten in der Regel nicht. Insofern begünstigt das jeweilige Verfahren zur Bestimmung eines Vorsitzenden entweder eine Konzentration auf die Mitgliedererwartungen oder die Berücksichtigung von Wählererwartungen.

In der CDU ist jetzt häufig zu hören: Wir hatten den falschen Kandidaten – mit einem besseren gewinnen wir locker wieder.
Beides halte ich für nicht plausibel und schon gar nicht belegt. Ich habe schon zu Beginn dieses Wahljahres einen Regierungswechsel für mindestens so wahrscheinlich gehalten wie eine Fortsetzung unter Führung der Union.

Norbert Lammert glaubt, dass die CDU ihre Probleme analysieren sollte, bevor sie mit der Neuaufstellung beginnt.
Norbert Lammert glaubt, dass die CDU ihre Probleme analysieren sollte, bevor sie mit der Neuaufstellung beginnt.

© Nassim Rad / Tagesspiegel

Aber die Union ging mit starken Werten in die Wahl hinein!
Ich habe es tatsächlich noch nie erlebt, dass es ein halbes Jahr vor der Wahl so viele Turbulenzen bei so vielen Parteien mit so starken Ausschlägen in beide Richtungen gegeben hat wie diesmal. Doch wenn Sie die großen Zyklen in jetzt 20 Legislaturperioden betrachten, fällt auf, dass die Wählerinnen und Wähler einer einmal gewählten Regierung in Deutschland eine erstaunlich sehr viel längere Zeit einräumen als in fast allen anderen ernst zu nehmenden Demokratien. Aber dass es nach vier Legislaturperioden und einem angekündigten Ausscheiden Angela Merkels ein Bedürfnis, mindestens ein Interesse an einer Veränderung geben könnte, war mindestens so wahrscheinlich wie die treuherzige Annahme, die Union regiere ja ohnehin.

Dann war die CDU Opfer eines Großtrends und kann sagen: Im Großen und Ganzen können wir so bleiben wie wir sind?
Das wäre der nächste Trugschluss. Wenn man sich das Wahlergebnis genauer ansieht, stößt man auf eine Reihe von Befunden, von denen sind einige für die CDU schlicht desaströs – beispielsweise das Abschneiden bei den Erstwählerinnen und -wählern. Andere sind aber auch durchaus - ich will nicht sagen: ermutigend, aber aufschlussreich, wenn man daraus die richtigen Schlüsse zieht.

Zum Beispiel?
76 Prozent aller abgegebenen Stimmen sind auf fünf Parteien entfallen: CDU, CSU, SPD, Grüne und FDP. Beide Parteien an den Rändern, die im Bundestag vertreten waren, haben verloren. Meine starke Vermutung ist, dass diese 76 Prozent in der Wahrnehmung der allermeisten Wählerinnen und Wählern die neue bürgerliche Mitte sind, aus der sich verschiedene Varianten für die Regierungsbildung ergeben. Das bestätigt uns auch eine eigene, sehr umfangreiche Erhebung aus dem vorigen Jahr. Dort haben drei Viertel der rund 8000 befragten Wahlberechtigten erklärt, sie hätten außer einer ersten Parteipräferenz eine zweite oder gar dritte.

Der Stammwähler stirbt aus?
Die Anzahl der Mitglieder ist in allen Parteien insgesamt deutlich kleiner geworden und damit auch ihr Anteil an der Wählerschaft: Alle Parteien zusammen haben nur noch halb soviele Mitglieder wie vor 30 Jahren. Der früher typische CDU-Wähler sagt heute: Normalerweise wähle ich CDU. Aber wenn ich die aus irgendeinem Grund nicht so richtig überzeugend finde, kann ich mir auch vorstellen, die FDP zu wählen, Grüne zu wählen und notfalls auch SPD. Sinngemäß genauso sagt das die früher typische SPD-Wählerin.

Auch die Grünen haben jetzt die desillusionierende Erfahrung gemacht, dass der Anteil der Überzeugungswähler immer kleiner geworden ist. Das erklärt ja auch ihr erstaunlich bescheidenes Ergebnis. Das heißt aber im Klartext: Keine Partei, auch keine der ehemals größeren Volksparteien, kann heute mehr Wahlen durch die Mobilisierung der Stammwähler gewinnen. Wahlen werden heute von den Wechselwählern entschieden.

Was heißt das konkret für die CDU?
Wenn man die Wählerwanderung betrachtet, dann hat die CDU allein bei der letzten Wahl vier Millionen Stimmen verloren, darunter etwa zweieinhalb Millionen an SPD und Grüne. Und wie viele sind gar nicht erst zur Wahl gegangen? Ganze 50 000. Aus alledem ergibt sich der ebenso desillusionierende wie spannende Schluss: Für drei Viertel der Wählerinnen und Wähler wird mit jedem Wahltag das Spiel neu eröffnet. Und die allermeisten dieser 75 Prozent sind für die Union gewinnbar, genauso wie sie für SPD und Grüne und FDP gewinnbar sind.

Norbert Lammert sagt: Wahlen werden von Wechselwählern entschieden.
Norbert Lammert sagt: Wahlen werden von Wechselwählern entschieden.

© Ole Spata/dpa

Was aber umgekehrt heißt: Sie sind für die Union genausogut verlierbar …
Es gibt da noch einen zusätzlichen Effekt, auf den die Union strategisch stolz sein kann, taktisch aber reagieren muss. In Deutschland sind Parteien nur regierungsfähig, wenn sie die Positionen übernehmen, die die Adenauer-CDU in den 50er Jahren und die Kohl-CDU in den 80er Jahren durchgesetzt hat: Westintegration, NATO, Bundeswehr, europäische Integration, Soziale Marktwirtschaft. Nirgends wird das deutlicher als bei den Grünen.

Als die Anfang der 80er Jahre in den Bundestag einzogen, haben sie schon den Verdacht mit Abscheu und Empörung zurückgewiesen, sie könnten an Regierungsfähigkeit interessiert sein. Selbst die Charakterisierung als Partei empfanden sie als ehrenrührig. Irgendwann stellten sie fest, dass sie damit einen Teil ihrer damals kleinen Kundschaft gut unterhalten, aber sicher nichts verändern können, und machten sich auf den langen Weg zur Regierungsfähigkeit.

Und heute sind quasi alle CDU?
Die CDU hat fast alle historischen Alleinstellungsmerkmale verloren, weil all die Positionen, die man klassischerweise mit der Union verbunden hat, inzwischen in dieser oder jener Form auch von den anderen geteilt, mindestens reklamiert werden. Daraus ergibt sich zwingend die Notwendigkeit zu einem programmatischen Klärungsprozess. Der sollte nach meiner persönlichen Erwartung nicht eine Verabschiedung von diesem Markenkern, sondern eine prägnante Neuformulierung unter Berücksichtigung der tatsächlichen Herausforderungen im 21. Jahrhundert zum Gegenstand haben.

Aber interessieren sich Wähler wirklich für die Selbstfindung einer Partei?
Als die Union 1969 nach zwei Jahrzehnten zum ersten Mal in die Opposition gehen musste und begriffen hatte, dass sie dort durch den Wechsel des Koalitionspartners wohl auch länger bleiben würde, hat schließlich Helmut Kohl einen organisatorischen, strukturellen und programmatischen Erneuerungsprozess in Gang gesetzt. Es spricht ja Bände, dass die CDU ihr erstes Grundsatzprogramm erst in der Opposition formuliert hat. Bis dahin sah man dafür überhaupt keinen Bedarf. Aber diese Anstrengung hat die Partei wieder attraktiver gemacht und sie nicht sofort, aber auch nicht nach ewig langer Zeit zurück in die Regierung gebracht. Viel anders wird das auch jetzt nicht gehen können.

Dass die Bandbreite früher kleiner war, glaube ich nicht. Alfred Dregger und Norbert Blüm waren schon Antipoden. 

Norbert Lammert.

Ich frage mich nur, ob die CDU nicht als Noch-Volkspartei inzwischen eine so breite Spanne von Meinungen und Haltungen umfasst, dass sich das nur noch mit nichtssagenden Formeln überbrücken lässt.
Dass die Bandbreite früher kleiner war, glaube ich nicht. Alfred Dregger und Norbert Blüm waren schon Antipoden. Vernünftigerweise wird keine programmatische Klärung auf Begriffe verzichten, die zum Markenkern der Union gehören, selbst wenn sie inzwischen auch von Wettbewerbern als Flagge geschwenkt werden.

Aber dass man in der heutigen innenpolitischen, europäischen und globalen Lage beinahe alle spannenden Fragen neu stellen und neu beantworten muss, das scheint mir evident. Wir neigen als CDU vielleicht besonders dazu, uns in der Regierungszeit in einer assistierenden Rolle zu sehen zur Umsetzung und Erläuterung von Regierungspolitik. Jetzt müssen wir ein Selbstverständnis als Denkfabrik zur Entwicklung alternativer Politikkonzepte entwickeln.

Wird der nächste Vorsitzende eigentlich eher ein Vorsitzender des Übergangs?
Jedenfalls muss sich die Partei nach den Erfahrungen der Vergangenheit darauf einstellen, dass es nicht schon beim nächsten Mal garantiert wieder eine Rückkehr in die alte vertraute Rolle gibt.

Wenn die langen Linien weiter gelten, auf die Sie vorhin verwiesen haben, bekommt auch die nächste Bundesregierung acht Jahre Zeit. Und obendrein müsste doch die Union diesmal für eine neue Mehrheit wahrscheinlich gleich zwei Partner aus der Regierung herauslösen?
Das ist noch einmal eine zusätzliche, besondere Baustelle. Denn die FDP wird es bei der nächsten Bundestagswahl viel leichter haben, ihre Kundschaft für die Verlängerung einer Regierung unter ihrer Beteiligung zu gewinnen, als es ihr jetzt gelungen ist, eine erkennbar andere Erwartung der Mehrheit ihrer Mitglieder zugunsten einer Ampelkoalition zu integrieren.

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