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Irans Polizei geht gegen Demonstranten vor.

© Foto: Reuters/Wana News Agency

„Attacke auf die Grundfesten der islamischen Republik“: Was die aktuellen Proteste im Iran von früheren unterscheidet

Ein Gespräch mit Dieter Karg von Amnesty International über das brutale Vorgehen iranischer Sicherheitskräfte gegen Demonstranten.

Herr Karg, seit zwei Wochen geht das iranische Regime brutal gegen die Unruhen im Land vor. Amnesty International spricht von einem weitverbreiteten und systematischen Einsatz rechtswidriger Gewalt durch Sicherheitskräfte. Was ist damit gemeint?
Das heißt, dass die vielen friedlichen Demonstranten mit großer Härte verfolgt werden. Dazu gehört der Einsatz von Elektroschockern, Metallgeschossen, Schrotkugeln und anderer scharfer Munition. Die Regierung will offenkundig den Aufstand mit aller Gewalt niederschlagen.

Mit anderen Worten: Die Sicherheitskräfte nehmen den Tod von Demonstranten zumindest billigend in Kauf?
Ja, den Eindruck muss man haben. Besonders verwerflich finde ich den Einsatz von Schrotkugeln. Die streuen weit und richten deshalb zumeist schwere Verletzungen am ganzen Körper an. Uns sind zum Beispiel Fälle bekannt, wo Menschen ihr Augenlicht verloren haben.

Handeln die Sicherheitskräfte auf eigene Faust oder folgen sie Befehlen der staatlichen Behörden?
Sie werden zumindest von der Regierung unterstützt, indem ihnen freie Hand gelassen wird, in jeder Art und Weise die Proteste zu bekämpfen.

Dafür spricht, dass es immer wieder Belobigungen gibt, aber eben keine Untersuchungen durchgeführt werden, wenn Polizisten menschenrechtswidriges Vorgehen vorgeworfen wird. Gewalt von Sicherheitskräften hat nie Konsequenzen.

In einer geleakten Anweisung des Oberkommandos der Streitkräfte heißt es, Protestierenden sei „energisch entgegenzutreten“, es handele sich um „Randalierer“ und „Volksfeinde“.

Dieter Karg ist Iran-Experte bei Amnesty International Deutschland. Er engagiert sich seit Jahren für Menschenrechte in der Islamischen Republik.

© Foto: Privat

Amnesty hat auch Fälle sexualisierter Gewalt dokumentiert. Gehen die Sicherheitskräfte gezielt gegen Frauen vor, weil mit ihrem Protest gegen den Tod einer jungen Frau in Polizeigewahrsam und das Kopftuchtragen die Unruhen begannen?
Jede Art von Opposition wird in der Regel mit Gewalt im Keim erstickt. Das war schon immer so. Doch die aktuellen Proteste unterscheiden sich von vorigen.

Aus Sicht der Machthaber kommen die Proteste einer Attacke auf die Grundfesten der Islamischen Republik gleich.

Dieter Karg, Amnesty International

Inwiefern?
Es machen viel mehr Menschen als sonst ihrem Unmut auf der Straße Luft. Vor allem geht es zum ersten Mal weniger um die wirtschaftliche Not der Menschen als vielmehr um die Situation der Frauen, sprich: deren Unterdrückung durch moralische oder religiöse Vorgaben der islamistischen Herrscher.

Damit wird jedoch ein zentraler Punkt der theokratischen Staatsideologie angegriffen. Das kommt aus Sicht der Machthaber einer Attacke auf die Grundfesten der Islamischen Republik gleich.

Mahsa Aminis Tod in Polizeigewahrsam hat die Proteste ausgelöst. 

© Foto: AFP/Safin Hamed

Immer wieder ist auch von willkürlichen Verhaftungen die Rede. Was droht den Festgenommenen?
Alles, was man sich an schlimmen Dingen vorstellen kann. Sie werden in Polizeigewahrsam geschlagen und gefoltert. Hinzu kommen Verhöre, die sich über Tage, ja, Wochen hinziehen können.

Oft wissen die Angehörigen nicht, was mit den Verschleppten geschehen ist. Das kommt einem Verschwindenlassen gleich. Denn auch Anwälte bekommen in der Regel erst Zugang, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind – aus Sicht des Regimes im Idealfall mit einem Geständnis. Von rechtsstaatlichen Verfahren kann keine Rede sein.

In den ersten sechs Monaten dieses Jahres gab es schon 252 Hinrichtungen.

Dieter Karg, Amnesty International

Irans Herrscher setzen seit Langem auf Repression, um jede Art von Opposition zu unterdrücken. Ist das Regime unter dem als Hardliner geltenden Präsidenten Ebrahim Raisi noch repressiver geworden?
Ja, vor allem beim Durchsetzen von rigiden Moralvorstellungen. Auffallend ist auch, dass die Todesstrafe wieder häufiger angewendet wird. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres gab schon 251 Hinrichtungen. Das sind fast so viele wie im gesamten Jahr 2021.

Die Gewalt gegen Demonstranten im Iran hält an. Was erwartet Amnesty International konkret von westlichen Regierungen?
Es muss eine unabhängige Untersuchungskommission geben, womöglich angesiedelt bei den UN. Denn im Iran selbst wird das nicht möglich sein. Wichtig wäre darüber hinaus, ein Verfahren gegen Präsident Raisi anzustrengen. Schließlich war er 1988 als ranghoher Jurist maßgeblich für Massenhinrichtungen in iranischen Gefängnissen verantwortlich.

Selbst wenn es zustande käme, dürfte Raisi ein Verfahren kaum beeindrucken, oder?
Vermutlich nicht. Allein das Beispiel Russland zeigt bedauerlicherweise, dass sich Diktaturen nicht darum scheren, was der Rest der Welt von ihnen hält. Auch Drohungen fruchten in der Regel wenig. Ich befürchte deshalb, dass das iranische Regierung weiterhin versuchen wird, die Proteste mit Gewalt niederzuschlagen.

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