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Für die Polizei ist der Anstieg der Straftaten eine Belastung.

© dpa/Robert Michael

Kriminalstatistik 2022: Warum die Zahl der Straftaten in Deutschland steigt – auch bei Kindern

Die Zahl der Straftaten in Deutschland hat deutlich zugenommen. Ein Grund ist das Ende von Beschränkungen durch die Corona-Maßnahmen. Doch das allein erklärt den Anstieg nicht.

Es ist eine Zahl, die auf den ersten Blick alarmierend klingt: Die Zahl der Straftaten 2022 ist im Vergleich zum Vorjahr um 11,5 Prozent auf 5,6 Millionen gestiegen. Das geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik hervor, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Donnerstag vorgestellt hat.

„Der Anstieg der Fallzahlen nach dem Ende der Coronabeschränkungen kommt nicht überraschend. Es gibt Nachholeffekte“, sagte sie. Ein normaler Alltag bringe Tatgelegenheiten für Kriminelle mit sich. So gab es beispielsweise deutlich mehr Taschen- und Ladendiebstähle. Doch auch im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 gibt es einen signifikanten Anstieg: um 3,5 Prozent. Wie ist die Entwicklung zu erklären?

Der erste Punkt ist die gestiegene Anzeigebereitschaft – gerade bei sexuellen Übergriffen. Faeser sieht eine Art #metoo-Effekt, der Frauen dazu bringe, sich häufiger an die Polizei zu wenden und bei sexueller Gewalt nicht zu schweigen. Um das Sicherheitsgefühl von Frauen in der Öffentlichkeit zu steigern, will Faeser die Zahl der Überwachungskameras erhöhen.

Das Dunkelfeld ist kleiner geworden, das Hellfeld größer.

Innenministerin Nancy Faeser (SPD) zu den Fällen von „Kinderpornografie“

Einen Anstieg der Fallzahlen gibt es auch bei sogenannter „Kinderpornografie“, also Missbrauchsdarstellungen im Netz. Hier gab es zuletzt ein Plus von sieben Prozent. Faeser sprach von einem „entsetzlichen Ausmaß sexualisierter Gewalt an Kindern“. Das führen die Sicherheitsbehörden darauf zurück, dass mehr Fälle bekannt werden.

„Das Dunkelfeld ist kleiner geworden, das Hellfeld größer“, sagte Faeser. Betreiber von Internetdiensten melden Hinweise auf Kindesmissbrauch an die Organisation „National Center for Missing and Exploited Children“ in den USA. Diese wiederum gibt diese an Strafverfolgungsbehörden auf der ganzen Welt weiter. Seitdem Deutschland mit der Organisation kooperiert, steigt die Zahl der Fälle stark an.

Ein Plus gibt es zudem bei den Übergriffen auf Polizei und Rettungskräfte. Faeser spricht von einer „Verrohung in der Gesellschaft“, die ihr Sorgen bereite.

Geänderte Gesetze führen zu Anstieg

Aber auch Gesetzesänderungen können zu einem Anstieg von Straftaten führen – etwa bei der Bedrohung. Bis 2021 machte sich nur strafbar, wer andere mit einem Verbrechen wie Mord bedroht. Mittlerweile sind auch Drohungen mit Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder gegen Sachen mit besonderem Wert strafbar. Also beispielsweise die Drohung, jemandes Auto anzuzünden. Das hat einen starken Anstieg der Fälle verursacht.

Der Chef des Bundeskriminalamts, Holger Münch, nennt drei Faktoren, die neben dem Ende der Pandemie die Entwicklung der Zahlen beeinflussen: Migration, Inflation und die wirtschaftliche Situation. Eine Entwicklung ist für ihn besonders augenfällig: Der Anstieg von Straftaten bei Kindern und Jugendlichen. 2022 gab es 93.095 tatverdächtige Kinder unter 14 Jahren. Das ist ein Plus von gut 16 Prozent gegenüber 2019.

Auch bei den Jugendlichen gab es ein Plus von knapp sieben Prozent im Vergleich zu 2019. Bei den Delikten handele es sich meist um Ladendiebstahl, Beleidigung oder leichte Körperverletzung. Jugendliche begingen seit jeher die größte Zahl an Straftaten pro Kopf. „Das Risiko wird gesteigert durch Faktoren wie die ökonomischen Aspekte“ – gemeint ist Armut – „eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit, das Umfeld, also die peer group, oder Stressbelastung. Stichwort Corona“, erklärte Münch.

Auffällig sei, dass die Zahl der Taten besonders bei nicht-deutschen Kindern und Jugendlichen gestiegen sei. Sie seien stärker von solchen Risikofaktoren betroffen. So habe ein Teil von ihnen in Kriegsgebieten traumatisierende Erfahrungen gemacht. Im vergangenen Jahr habe die Netto-Zuwanderung mit 1,4 Millionen einen historischen Höchstwert erreicht. Es gebe auch einen Anstieg von nicht-deutschen Tatverdächtigen im Allgemeinen. „Mein Fazit ist, dass die negative Entwicklung nicht automatisch alarmierend ist“, sagte Münch. Man müsse sie aber weiter im Blick behalten.

Sicherheitsbehörden registrieren zudem, dass der Anteil der minderjährigen Tatverdächtigen bei der „Verbreitung pornografischer Schriften“ mit rund 41 Prozent sehr hoch ist. Hier spielt nach Einschätzung des Bundeskriminalamtes der Trend eine Rolle, dass Kinder und Jugendliche oft ohne zu wissen, dass dies strafbar ist, in Gruppenchats bei WhatsApp, Instagram, Snapchat oder auf anderen Kanälen unangemessene Bilder teilen.

Fredericke Leuschner, Soziologin an der Kriminologischen Zentralstelle zeigt sich wenig besorgt: „Es ist gut, dass es die Zahlen gibt, aber durch diese kann man keine Rückschlüsse auf eine höhere Brutalität oder Verwahrlosung der heutigen Jugend ziehen.“ Wenn es mehr Jugendliche gebe, dann gebe es auch mehr Straftaten von Jugendlichen. Rauschgiftkriminalität sinke und auch bei der Gewaltkriminalität sei kaum ein Anstieg zu sehen. „Es ist hier wichtig, sich wirklich die konkreten Delikte anzuschauen.“

Klaus Boers, Professor für Kriminologie an der Universität Münster, sieht in den Zahlen ebenfalls zunächst keinen Grund zur Beunruhigung. „Seit 2007 wird auf allen Ebenen der Kriminalität weltweit ein massiver Rückgang gemessen.“ An dem jetzigen einmaligen Anstieg ließe sich noch kein Trend festmachen, meint Boers.

Grundniveau bei Gewaltdelikten grundsätzlich gering

Erst in den kommenden zwei bis drei Jahren ließe sich absehen, ob es sich bei dem Anstieg nicht um eine Eintagsfliege handele, erklärte der Kriminologe. Generell sei zu berücksichtigen, dass das Grundniveau bei Gewaltdelikten immer gering sei: 2022 seien 0,6 Prozent aller Jugendlichen oder Heranwachsenden deswegen registriert worden.

„Bislang haben wir nur die polizeiliche Kriminalstatistik, also die von der Polizei registrierten Taten. Dabei werden keine Kriminalitätsursachen erhoben. Dafür benötigt man Täterbefragungen. Diese werden aber nur alle zwei Jahre und nur in Niedersachsen durchgeführt. Das nächste Mal 2023. Dann wird man insgesamt mehr sagen können, auch zu Migrationshintergründen.“

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