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Symbolbild: Arbeitsmontur von Bauarbeitern

© picture alliance/Peter Endig

Überraschende Einschätzung: Bundesregierung sieht keinen „umfassenden Fachkräftemangel“ - FDP widerspricht

Das Arbeitsministerium sieht trotz Warnungen aus der Wirtschaft keinen „umfassenden Fachkräftemangel“. Führende Politiker und Experten widersprechen.

Das Bundesarbeitsministerium hat mit einer Einschätzung zum Fachkräftemangel für Verwunderung gesorgt. Es erkenne keinen „umfassenden Fachkräftemangel“, heißt es in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag, die dem Tagesspiegel vorliegt. Experten und Politiker widersprechen. Bislang galt der Fachkräftemangel als eine der größten Gefahren für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Laut Bundesarbeitsministerium waren im dritten Quartal 2022 rund 1,82 Millionen offene Stellen zu besetzen, rund 2,45 Millionen Menschen waren arbeitslos gemeldet. Berücksichtige man diejenigen, die „in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, in vorübergehender Arbeitsunfähigkeit sowie in absehbar endender Erwerbstätigkeit“ seien im Oktober rund 4,35 Millionen Menschen auf Arbeitssuche gewesen.

Regierung offenbar uneinig

FDP-Fraktionschef Christian Dürr sieht die Interpretation des Bundesministeriums kritisch. „Nur weil es mehr Arbeitslose als offene Stellen gibt, heißt das nicht, dass wir kein Problem haben“, sagte er dem Tagesspiegel. „Diese Zahlen kann man nicht gegeneinander aufwiegen, denn in jeder Branche sind unterschiedliche Fähigkeiten gefragt. Ich spreche mit vielen Unternehmen und Verbänden, die Antwort ist immer wieder dieselbe: Es gibt nicht genügend Arbeitskräfte.“

Ähnlich äußerte sich Sabine Köhne-Finster vom Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung beim Institut der deutschen Wirtschaft. „Wir haben derzeit bundesweit 530.000 Stellen, für die es keine entsprechend qualifizierten Bewerber gibt. Das ist über ein Drittel aller offenen Stellen. Da würden wir schon von einem deutlichen Fachkräftemangel sprechen“, sagte sie. Zwar seien die Engpässe nicht in jeder Branche und nicht in jeder Region gleich gravierend. Man müsse aber bedenken, dass die Menschen nicht alle mal eben so umziehen könnten.

Das Wirtschaftsministerium verweist auf die jüngsten Aussagen von Minister Robert Habeck (Grüne), der die Einschätzung des Arbeitsministeriums offenbar ebenfalls nicht teilt. „Wir haben nicht nur einen steigenden Fachkräftemangel. Es fehlt in vielen Branchen generell an Arbeitskräften“, sagte er demnach. Das sei für die wirtschaftliche Entwicklung ein akutes Hemmnis.

SPD-Politiker verteidigt Ministerium

Auch das Bundesarbeitsministerium selbst sieht eine „deutliche Knappheit“ von Fachkräften in „einer zunehmenden Zahl von Berufsfeldern und in einigen Regionen“. Für das Jahr 2021 hatte die Bundesagentur für Arbeit Engpässe in 148 von 1200 betrachteten Berufsgattungen festgestellt. In Zukunft würden sich diese Engpässe aufgrund des demografischen Wandels aller Voraussicht nach weiter verschärfen. Dazu komme der Strukturwandel, die Digitalisierung und die Dekarbonisierung der Wirtschaft.

Das Ministerium verweist auf das sogenannte „Fachkräfteparadox“, das die „zunehmende Gleichzeitigkeit von Fachkräfteengpässen und Arbeitsplatzabbau“ beschreibt. Eine Option, um den Fachkräftemangel zu lindern, sei die Einwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten, also aus Ländern, die nicht der EU angehören.

Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Martin Rosemann, sieht in den Aussagen des Ministeriums kein Widerspruch. Das Ministerium nehme die derzeitige Arbeitsmarktsituation „sehr ernst“, auch „wenn die definitorischen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, um zu diesem Zeitpunkt von einem „umfassenden Fachkräftemangel“ oder einem „allgemeinen Arbeitskräftemangel“ zu sprechen“, sagte er dem Tagesspiegel.

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