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Rauch steigt auf, als ukrainische Minenräumer mit einer kontrollierten Explosion russische Panzerabwehrminen zerstören.

© dpa / Francisco Seco

Ukraine-Invasion Tag 232: „Wir verstecken uns im Wald wie Obdachlose“

Erneut breitflächige russische Raketenangriffe, Waffenpakt in Brüssel, ukrainische Energieversorgung wieder hergestellt. Der Überblick am Abend.

„Wir verstecken uns im Wald wie Obdachlose.“ Es ist eine fast unglaubliche Aussage, wenn man bedenkt, dass sie von einem Soldaten der angeblich zweitstärksten Armee der Welt kommt. 

Der Satz stammt aus einem abgehörten Telefongespräch zwischen einem russischen Soldaten, der mit Vornamen Sanja heißt und wohl aus der Stadt Irkutsk stammt, und einem Mann, der sich offensichtlich noch in Russland befindet. Seit Kriegsbeginn wurden Tausende solcher Telefonate abgehört, online gestellt und teilweise übersetzt (hier zum Beispiel von der „New York Times“). 

Das Gespräch (Quelle hier) scheint aktuell zu sein und beschreibt die Situation an der Front im Süden der Ukraine in Cherson. Die Aussagen des Soldaten sind glaubwürdig, decken sie sich doch mit Berichten aus anderen Teilen des Landes und mit Nachrichten von russischen Soldaten im sozialen Netzwerk Telegram. Die Schilderungen decken sich auch mit Bildaufnahmen von verlassenen russischen Stellungen aus Charkiw, die in einem völlig chaotischen Zustand waren. 

Der Soldat befindet sich offensichtlich westlich des Flusses Djnepr, wo die Ukraine zuletzt deutliche Fortschritte machen konnte. Die gesamte russische Linie ist demnach unter heftigem ukrainischen Beschuss - durch Artillerie, Panzer, Raketenwerfer, Flugzeuge, Hubschrauber, Mörser und Haubitzen - und auf dem Rückzug. Die Russen selbst hätten zu wenig Munition, um zurückzuschießen. Auch westliche Geheimdienste hatten zuletzt von einem drastischen Munitionsmangel auf der Seite Russlands gesprochen. Damit hat sich die Situation aus dem Sommer umgekehrt: Damals hatten die Ukrainer zu wenig Munition, vor allem für die Artillerie, um sich gegen die Russen zur Wehr zu setzen. 

„Ich bin selbst schockiert“, sagt der Soldat. „Wir haben nicht genug zu essen, wir können uns nicht waschen, wir verstecken uns im Wald wie Obdachlose.“ Er berichtet, wie sich die Soldaten zweimal in einer Nacht zurückziehen und neue Schutzgräben ausheben mussten, er fühle sich inzwischen wie ein Maulwurf. „Immer wieder diese verdammten Schaufeln.“ Die Haubitzen „machen uns fertig“, erzählt er weiter. „Der halbe Wald springt nach oben, wenn sie treffen.“ Viele russische Soldaten würden das Gerät zurücklassen und davonrennen. 

Der Zeitvertrag des Soldaten endet nach eigener Aussage am 22. Oktober. Er hat offensichtlich noch nicht mitbekommen, dass mit Putins Dekret vom 21. September alle Zeitverträge auf unbestimmte Zeit verlängert wurden.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages:

  • Putins Eskalation in der Ukraine beunruhigt Teile der russischen Elite: Die Stimmung bei Russlands Wohlhabenden verschlechtert sich. Die politische Situation scheint ausweglos. Mancher macht sich Gedanken über einen Machtwechsel. Mehr hier.
  • Britische Militärexperten rechnen mit einer Ausdehnung der Kämpfe auf das Stadtgebiet Cherson. Die Russen seien bemüht, einen Frontverlauf westlich der Ortschaft Mylowe zu festigen. Mehr hier.
  • „Wiederaufnahme einer strategischen Bombardierung der Ukraine“: Russland verstärkt die Luftangriffe auf die Ukraine. Iranische Drohnen könnten in Zukunft eine wichtige Rolle dabei spielen. Mehr hier.
  • Luftabwehrsystem für Europa: Unter der Führung Berlins soll über Europa ein Schutzschirm gegen Raketen- und Drohnenangriffe aufgebaut werden. Die Details lesen Sie hier.
  • Nach der Teilmobilmachung in Russland wurden erstmals tote Rekruten gemeldet. Die Familien der Soldaten erhalten eine Million Rubel. Mehr hier.
  • Nach den massiven russischen Angriffen der vergangenen Tage hat der ukrainische Versorger Ukrenergo am Donnerstag mitgeteilt, die Energieversorgung sei in „allen ukrainischen Regionen“ wieder stabil. Es sei nicht weiter nötig, die Stromversorgung zu rationieren, fügte das Unternehmen hinzu. In den vergangenen Tagen hatte es in zahlreichen ukrainischen Städten und Regionen infolge der russischen Angriffe Stromausfälle gegeben. Mehr in unserem Liveblog hier.
  • Die Nato wird die Ukraine in deren Abwehrkampf gegen Russland mit Ausrüstung zur Drohnen-Abwehr unterstützen. In Kürze würden Hunderte sogenannte Jammer geliefert, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Donnerstag nach einem Treffen der Verteidigungsminister in Brüssel. Diese könnten dabei helfen, in Russland und im Iran hergestellte Drohnen unwirksam zu machen. Jammer sind elektromagnetische Störsender. Sie senden in der Regel ein Signal aus, das die Funkverbindung zwischen der Drohne und deren Steuerungsgerät stört oder blockiert.
  • In der besetzten Region Cherson herrscht Unklarheit über mögliche Evakuierungen. Nachdem der von Russland eingesetzte Gouverneur, Wladimir Saldo, Einwohnern Hilfe beim Verlassen des Gebiets angeboten hatte, erklärte sein Stellvertreter Kirill Stremousow nur wenige Momente später, Cherson werde nicht evakuiert. „Niemand plant, die russischen Truppen aus der Region Cherson abzuziehen.“
  • Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) hat ihre Entscheidung verteidigt, bei der Energieversorgung Deutschlands maßgeblich auf russisches Gas zu setzen. Mit dem geplanten schrittweisen Atom- und Kohleausstieg sei für eine Übergangszeit bis zur umfassenden Versorgung mit CO2-freien Energieformen Erdgas notwendig gewesen, sagte Merkel am Donnerstag in Lissabon. Es sei dabei „sehr rational und nachvollziehbar“ gewesen, russisches Gas zu beziehen. Denn dieses sei billiger gewesen als Flüssiggas aus den USA, Saudi-Arabien oder Katar.
  • Weltbank-Präsident David Malpass will bis Ende Oktober, weitere 530 Millionen Dollar an die Ukraine auszahlen. Darauf bereite man sich vor. Damit hätte die Finanzorganisation dann rund elf Milliarden Dollar an die Ukraine ausbezahlt, die seit dem Angriff Russlands Ende Februar im Ausnahmezustand ist.
  • Die Ukraine hat nach Angaben ihres Generalstaatsanwaltes bislang 186 mutmaßliche russische Kriegsverbrecher identifiziert. Nur wenige von ihnen befänden sich aber bereits in Haft, teilte Generalstaatsanwalt Andriy Kostin am Donnerstag in Den Haag mit. Das Ausmaß der Verbrechen sei immens, sagte er. Es gebe Hinweise, dass seit Ausbruch des Krieges jede Art von Kriegsverbrechen begangen worden sei, wie Folter, Mord, Vergewaltigung oder Vertreibung.
  • Die Luftangriffe auf die Ukraine halten unvermindert an. In den letzten 24 Stunden seien mehr als 40 Städte von russischen Raketen getroffen worden, teilte der Generalstab der ukrainischen Armee am Donnerstag mit. Die ukrainische Luftwaffe habe in derselben Zeit 32 Angriffe auf 25 Ziele geflogen.
  • Auf Wunsch des ukrainischen Generalkonsulats und bürgerschaftlicher Verbände benennt die Stadt München die „Kiewstraße“ in „Kyivstraße“ um. Die bisherige Schreibweise sei aus dem Russischen abgeleitet, die künftige aus dem Ukrainischen, erklärte die Stadtverwaltung am Donnerstag. Der Beschluss des Kommunalausschusses des Stadtrats sei als klares Zeichen der Solidarität mit der Ukraine und der Partnerstadt Kyiv zu verstehen.
  • Zur Versorgung ukrainischer Flüchtlinge stehen den EU-Staaten weitere 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Das Geld soll aus dem sogenannten Kohäsionsfonds für regionale Entwicklung umgeschichtet und flexibler genutzt werden können. Die EU-Staaten folgten mit ihrer Entscheidung vom Donnerstag einem Vorschlag der EU-Kommission und machten so den Weg für die Hilfe frei. Das Europaparlament hatte bereits zugestimmt.
  • In der nahe der ukrainischen Grenze gelegenen russischen Großstadt Belgorod sind dortigen Angaben zufolge Raketenteile in ein Hochhaus eingeschlagen. „Die ukrainischen Streitkräfte haben Belgorod beschossen“, schrieb der Gouverneur der Region, Wjatscheslaw Gladkow, am Donnerstag in seinem Telegram-Kanal. Die Flugabwehr sei aktiviert worden. In den sozialen Netzwerken kursieren Bilder von dem Einschlag und dem beschädigten Wohnhaus. Tote und Verletzte gab es den Angaben zufolge aber nicht.
  • Pro-russische Separatisten haben nach eigenen Angaben zwei Dörfer nahe der Industriestadt Bachmut in der Donezk-Region erobert. Eine Gruppe von Soldaten der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk hätten „mit Feuerunterstützung der russischen Streitkräfte“ die Dörfer Opytine und Iwangrad „befreit“, erklärten die prorussischen Behörden am Donnerstag im Onlinedienst Telegram.
  • Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht hat am Rande eines Nato-Treffens davor gewarnt, die Atomdrohungen Russland im Ukraine-Krieg auf die leichte Schulter zu nehmen. „Es ist ganz wichtig, dass wir die Drohungen, die seitens Russlands ausgestoßen werden, dass wir die sehr wohl ernst nehmen und dass wir uns eben auch darauf entsprechend einstellen“, sagte die SPD-Politikerin in Brüssel. Deshalb sei es ganz wichtig, dass man sich innerhalb der Nato austausche und überlege, wie man darauf reagiere.
  • Neueste Satellitenbilder des Unternehmens Maxar Technology zeigen die Fortschritte bei den Reparaturen der Krim-Brücke. Demnach ist sowohl die Eisenbahnstrecke als auch die Fahrbahn bereits größtenteils wieder in Stand gesetzt. Zudem ist auf den Bildern laut Berichten auf Twitter eine Fähre zu sehen, auf der russische Militärfahrzeuge geladen sind. Die Fähre durchkreuzt die Straße von Kertsch, welche die Verbindung zur annektierten Halbinsel Krim darstellt.
  • Der neue ukrainische Botschafter Olexij Makejew wird bereits Anfang kommender Woche in Berlin erwartet. Wie die Deutsche Presse-Agentur aus ukrainischen Regierungskreisen erfuhr, dürfte der bisherige Sonderbeauftragte für die Sanktionen gegen Russland am Montag aus Kiew an seiner neuen Wirkungsstätte eintreffen. Zwei Tage zuvor - am Samstag - wird der jetzige Botschafter Andrij Melnyk Deutschland verlassen. Er soll in Kiew einen neuen Posten im Außenministerium übernehmen.
  • Die deutschen Exporte nach Russland haben sich im August wegen der Sanktionen infolge des Krieges gegen die Ukraine in etwa halbiert. Sie brachen um 45,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat auf 1,2 Milliarden Euro ein, wie das Statistische Bundesamt am Donnerstag mitteilte.
  • Angesichts der am Mittwoch angekündigten Unterstützung für die Ukraine hat der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin weitere Rückeroberungen durch die Ukraine vorhergesagt. „Ich erwarte, dass die Ukraine während des Winters weiterhin alles tun wird, um ihr Territorium zurückzugewinnen und an der Front erfolgreich zu sein“, erklärte Austin laut „New York Times“ am Mittwochabend am Rande des Treffens der Ukraine-Kontaktgruppe in Brüssel.
  • Großbritannien will der Ukraine Luftabwehrraketen zur Verteidigung gegen Russland liefern. „Die AMRAAM-Raketen (...) werden in den kommenden Wochen für den Einsatz mit den von den USA zugesagten NASAMS-Luftabwehrsystemen bereitgestellt“, erklärte das britische Verteidigungsministerium in der Nacht zum Donnerstag. Die Raketen würden dazu beitragen, die kritische Infrastruktur in der Ukraine zu schützen, hieß es.

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