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Keine unerfassten Überstunden mehr.

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Nach dem Urteil des Bundesgerichts: So will die Ampel künftig die Arbeitszeit erfassen lassen

Für rund ein Viertel der Beschäftigten wird die Arbeitszeit nicht erfasst. Das muss sich jetzt ändern. Wie genau, soll im Frühjahr 2023 feststehen.

Mehr als die Hälfte aller Überstunden wird in Deutschland nach Schätzung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit unbezahlt geleistet.

Von dem entgangenen Lohn ließe sich so manche Heizkostennachzahlung begleichen. Und daher war das öffentliche Interesse groß, als das Bundesarbeitsgericht im September urteilte: Aus dem deutschen Arbeitsschutzgesetz leitet sich eine Pflicht ab, Arbeitszeiten zu erfassen.

Am Wochenende nun veröffentlichte das Gericht seine Urteilsbegründung, und wieder steht die Frage im Raum: Müssen nun in allen Betrieben die Arbeitszeiten erfasst werden?

Überall, wo die bisherige Rechtslage umgesetzt wurde, ergibt sich keine wesentliche Änderung.

Enzo Weber, Arbeitsmarktforscher

„Überall, wo die bisherige Rechtslage umgesetzt wurde, ergibt sich keine wesentliche Änderung“, sagt dazu Enzo Weber, Forscher am IAB in Nürnberg. Denn auch bisher schon gibt es eine gesetzliche Pflicht, Überstunden zu erfassen. „Und wer Überstunden erfasst, erfasst auch reguläre Arbeitszeiten“, sagt Weber.

Für Beschäftigte könnte sich kurzfristig etwas ändern

Allerdings ist die Praxis bisher für viele Beschäftigte eine andere. Nach Schätzung von Weber wird bislang für circa ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland die Arbeitszeit nicht erfasst.

„Ich gehe davon aus, dass Betriebe, die derzeit keine Zeiterfassung haben, zumindest provisorische Lösungen auf den Weg bringen, um nicht Gefahr zu laufen, gegen Arbeitsschutzvorschriften zu verstoßen“, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Kaweh Mansoori, zuständiger Berichterstatter seiner Fraktion.

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„Überall dort, wo die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bisher ignoriert wurde, wird sich die Situation von Beschäftigten künftig verbessern“, sagt auch Johanna Wenckebach, wissenschaftliche Direktorin des Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Hans-Böckler-Stiftung.

„Die Beschäftigten können einsehen und im Streitfall – zum Beispiel, wenn es um die Bezahlung von Überstunden geht – auch viel besser beweisen, wann und wie viel sie gearbeitet haben.“ Mit Blick auf die Arbeitgeber sagt Wenckebach: „Auf eine veränderte Rechtsgrundlage zu warten, wäre nicht rechtmäßig.“

Zu Hause, im Café, im Büro? Moderne Arbeit findet an vielen Orten statt.

© Imago/Westend61

Ohnehin haben die Betriebe schon einige Vorwarnzeit gehabt. Schon im Jahr 2019 nämlich urteilte der Europäische Gerichtshof, dass Beginn und Ende der Arbeitszeit aller Beschäftigten erfasst werden muss.

Auch deshalb hat die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, sich des Themas anzunehmen. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts entfaltet Rechtswirkung, ganz unabhängig von einem möglichen neuen Gesetz. Aber dennoch sind viele Fragen offen, die per Gesetz geklärt werden sollen. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat einen Entwurf für das erste Quartal 2023 angekündigt.

Ampel plant grundsätzliche Erneuerung des Gesetzes

Dabei geht es um mehr als die Frage, auf welche Art künftig Arbeitszeiten erfasst werden. Sondern die Ampel-Koalition hat sich eine grundsätzliche Erneuerung des Arbeitszeitgesetzes vorgenommen.

Wir müssen uns mit Vertrauen und Optimismus an der Lebenswirklichkeit orientieren.

Pascal Kober, FDP-Bundestagsabgeordneter

Das nämlich wurde in einer Zeit geprägt, als Arbeit nur das war, was hinter dem Fabriktor oder am Büroschreibtisch stattfand. „Das Arbeitszeitgesetz muss ganz grundsätzlich an die moderne Arbeitswelt angepasst werden“, sagt Pascal Kober, arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.

„Bisher schreibt das Gesetz elf Stunden Ruhezeit vor, sodass es rein rechtlich für einen Büroangestellten nicht möglich wäre, abends auf der Couch noch einmal um 21 Uhr für eine Stunde Mails zu beantworten, um dafür am Nachmittag die Kinder früher aus der Kita abzuholen, wenn er am nächsten Morgen wieder um 8 Uhr anfangen will zu arbeiten. Eine solche Regel ist in dieser Form nicht mehr im Sinne der Beschäftigten. Wir müssen uns mit Vertrauen und Optimismus an der Lebenswirklichkeit orientieren.“

Arbeitgebervertreter warnen vor Bürokratie und unflexiblen Strukturen. Vertrauensarbeitszeit müsse weiter möglich bleiben, sagte Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, nach Veröffentlichung der Urteilsbegründung.

Das gibt das Urteil her: So müssen die Beschäftigten ihre Arbeitszeiten zwar erfassen. Die Betriebe sind aber nicht verpflichtet, diese Angaben zu kontrollieren. Das kann ganz unterschiedliche Auswirkungen haben. „Wenn Sie Leute haben, die intrinsisch motiviert sind, die sich mit der Aufgabe identifizieren, haben Sie Mehrarbeit durch Vertrauensarbeitszeit. In anderen Konstellationen kann es dazu führen, dass weniger gemacht wird“, sagt Arbeitsmarktforscher Weber.

In einer Neuregelung sieht er sowohl Chancen als auch Risiken: „Überlange Arbeitszeiten machen krank und unproduktiv, und mobile Arbeit lässt die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen. Andererseits ist Flexibilität auch im Sinne der Beschäftigten. Es kommt daher darauf an, pragmatische Konzepte zu finden, die einen fairen Rahmen setzen.“

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