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Brasilien Präsident Jair Bolsonaro hat angekündigt, eine Niederlage bei der Wahl nicht anerkennen zu wollen.

© Foto: Stringer/AFP

Bolsonaro droht Wahlniederlage in Brasilien: „Meine größte Sorge ist, dass es zu Gewalt und Chaos kommt“

Der Politologe Oliver Della Costa Stuenkel über die heikle Wahl in Brasilien, das toxische Erbe von Präsident Jair Bolsonaro und die internationalen Netzwerke der neuen Rechten.

Herr Stuenkel, am heutigen Sonntag stellt sich Brasiliens ultrarechter Präsident Jair Bolsonaro zur Wahl. Vieles deutet darauf hin, dass er gegen seinen Herausforderer, Ex-Präsident Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei, verlieren wird. Was wird das Erbe Bolsonaros sein?
Erstens gibt es heute eine extreme Rechte in Brasilien, die nicht wieder verschwinden wird. Es hat sich zweitens durch die Erleichterung des Waffenerwerbs eine Waffenkultur herausgebildet. Viele Brasilianer, besonders rechte, sind heute bewaffnet. Drittens hat Bolsonaro den brasilianischen Staat stark geschwächt. Insbesondere im Umweltschutz, bei der Bildung und Gesundheit hat er durch die massive Kürzung von Geldern riesige Schäden angerichtet.

Zahlreiche qualifizierte Leute sind aus den Behörden fortgegangen. Es hat Jahrzehnte gedauert, um beispielsweise die Umweltpolizei Ibama aufzubauen, die sehr effektiv die Abholzung des Amazonas bekämpfte. Jair Bolsonaro hat sie praktisch auseinandergenommen. Es wird Jahr dauern, um sie wieder aufzubauen.

Haben Sie diesen Kahlschlag als Forscher selbst miterlebt?
Ja, denn auch die Gelder für die Wissenschaft wurden stark gekürzt. Man konnte unter Bolsonaro keine vernünftige Forschung mehr betreiben. Wissenschaftler, die auf Zuschüsse und Stipendien angewiesen sind, saßen auf dem Trockenen. Viele sind ins Ausland gegangen, gerade die Top-Leute. Wie willst du im Labor experimentieren, wenn kein Geld mehr da ist, um Material zu kaufen? Es gab einen Braindrain.

Zudem hat die Regierung kritische Wissenschaftler attackiert. Manche dieser Forscher waren prominent und konnten sich wehren. Aber die Leute darunter hielten still, weil sie Angst bekamen. Bolsonaro ist letztendlich ein Caudillo lateinamerikanischer Prägung, ein Populist mit autoritären Ambitionen. Ich vergleiche ihn oft mit Venezuelas verstorbenem Präsidenten Hugo Chávez, natürlich mit anderen ideologischen Vorzeichen.

Das müssen Sie erklären...
Beide versuchten, die Macht in der Exekutive zu konzentrieren und die Regierung zu militarisieren. Sie haben die Medien und die Universitäten angegriffen. Sie haben versucht, die Bürokratie zu politisieren und ihre Länder international isoliert. Und beide kommunizierten über ihre eigenen Kanäle mit dem Volk, um die Medien zu umgehen. Dort erzählt Bolsonaro jetzt seinen Anhängern, dass er die Wahl im ersten Wahlgang gewinnen werde. Die glauben das und sagen, dass die Umfragen gefälscht seien. Rund ein Viertel von Bolsonaros Wählern ist dagegen, dass er eine Niederlage akzeptiert.

Wir sind noch nicht dort angelangt, wo die USA heute stehen. Dort sagt ein Großteil der Republikaner, dass Biden die Wahl nicht gewonnen hat. Aber es gibt auch in Brasilien eine Radikalisierung, von der nicht klar ist, wohin sie führen wird. Meine größte Sorge ist, dass es nach dem Votum zu Gewalt und Chaos kommt. Und langfristig könnte es ein Problem sein, wenn 20 oder 30 Millionen Leute sagen, Lula ist nicht mein Präsident, ich muss keine Steuern mehr zahlen. Dann wäre jeder Verrücktheit Tür und Tor geöffnet.

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Das Militär wird nicht putschen. Die Generäle sind nicht verrückt, und es werden keine Panzer rollen. Aber wenn die Wahl knapp ausgeht, und es zu Unruhen kommt, könnte Bolsonaro dem Militär befehlen, für Ordnung zu sorgen. Oder es kommt zu einer Hacker-Attacke auf das Oberste Wahlgericht und Bolsonaro sagt, die Wahl wurde manipuliert. Dann könnten die Militärs sagen, es ging nicht mit rechten Dingen zu, die Wahl muss wiederholt werden.

Wie erklären Sie den Aufstieg Bolsonaros, warum wählen ihn immer noch so viele Menschen?
Brasilien hatte in den vergangenen zehn Jahren null Prozent Wirtschaftswachstum. Es war eine verlorene Dekade. Das Land ist in einem katastrophalen Zustand. Die Leute meiner Generation zum Beispiel haben nichts angespart, keiner hat ein Haus finanziert. Es herrscht Frustration. Dabei gab es von 2002 bis 2013 eine große Euphorie. Millionen Menschen kauften Motorräder, Kühlschränke und schickten ihre Kinder zur Uni. Dann kam die Stagnation und in der Pandemie gab es enorme Rückschritte.

Keine Ordnung, kein Fortschritt. Brasilien hat mit null Prozent Wachstum eine verlorene Dekade hinter sich.

© Foto: Reuters/Ueslei Marcelino

Gibt es weitere Gründe?
In den Augen vieler Brasilianer funktioniert das System nicht, weswegen sie anfällig für radikale Ideen sind. Ein Extremist wie Bolsonaro steigt ja in einer stabilen Gesellschaft nicht auf. Zweitens wird häufig übersehen, dass zahlreiche progressive Reformen in Brasilien von den Gerichten kamen und nicht von der Politik. Viele Fortschritte im Bereich der Menschenrechte waren Neuinterpretationen durch die Justiz, beispielsweise die Schwulen-Ehe. Rechte Kritiker sagen nun, dass dies nicht demokratisch ist.

Bolsonaros Anhänger teilen das Gesellschaftsbild Wladimir Putins.

Oliver Della Costa Stuenkel, Politologe

Bolsonaros Anhänger sind Menschen mit Furcht vor progressiven Veränderungen, etwa durch den Feminismus. Sie teilen das Gesellschaftsbild Wladimir Putins. Ein dritter wichtiger Punkt für die Beständigkeit Bolsonaros ist, dass seine Wähler keinen Zugang mehr zu den traditionellen Medien haben. Sie leben in einer separaten Informationswelt. Alles, was sie sehen und hören, ist stramm rechts.

Welche Verbindungen existieren zwischen den neu-rechten Bewegungen weltweit: dem Bolsonarismus, dem Trumpismus, dem Neo-Faschismus in Italien oder Le Pen in Frankreich?
Es gibt die Conservative Political Action Conference (Cpac) in den USA, wo diese Leute sich treffen und wo auch Präsidentensohn Eduardo Bolsonaro hingeht und sich mit Steve Bannon bespricht, dem Einflüsterer der extremen US-Rechten. Was die Techniken angeht, also die Art, wie Kampagnen geführt werden, findet viel Austausch statt und man lässt sich inspirieren. Oft sehe ich in den Telegram-Gruppen in Brasilien Dinge, die kurz davor im rechten US-Sender Fox News von dessen Starmoderator Tucker Carlson verbreitet wurde.

Der Herausforderer von Jair Bolsonaro: Luiz Inacio Lula da Silva spricht bei einer TV-Debatte in Brasilien.

© Foto: AFP/Miguel Schincariol

Allerdings ist dieser Austausch nicht formalisiert. Und die nationalen Kontexte sind ganz andere. Das Rassemblement National in Frankreich oder der Neofaschismus in Italien wollen beispielsweise keine Militarisierung der Politik wie Bolsonaro. Es gibt zudem ein Hindernis: Diese Bewegungen sind ultranationalistisch, weswegen die internationale Zusammenarbeit für sie ein Problem ist. Orban, Bolsonaro und Le Pen können sich gegenseitig nicht viel anbieten, außer, dass sie sich nicht gegenseitig kritisieren.

Bolsonaro hat Brasilien außenpolitisch isoliert. Wird das Land unter einem Präsidenten Lula international wieder an Gewicht gewinnen?
Brasilien ist heute außenpolitisch isolierter als jemals seit der Redemokratisierung 1988. Bolsonaro feierte diese Abschottung, seine Leute sagten, wir machen etwas richtig, wenn die liberalen Demokratien uns schneiden. Außer mit Serbien, Polen und Ungarn würde Brasilien heute kein bilaterales Treffen in Europa mehr hinkriegen. Das wird sich unter Lula innerhalb von 24 Stunden ändern.

In den Bereichen Umwelt, Menschenrechte, Multilateralismus und Demokratie wird Brasilien sofort wieder ein Partner sein. Ob es unter Lula zu einer schnellen Verabschiedung des Freihandelsabkommens mit der EU kommt, ist weniger klar. Lulas Arbeiterpartei ist nicht pro Globalisierung. Sie tickt protektionistisch. Lula ist die Industrialisierung Brasiliens wichtiger als der Freihandel. Er will nicht nur Exporteur von Rohstoffen und Importeur von Industriegütern sein.

Was ist mit den Beziehungen zu Russland und China?
Wo Brasilien auf keinen Fall ein Partner der EU sein wird, ist in der Russland- und China-Frage. Da gibt es keine Überschneidung von Interessen. Lula ist Realpolitiker. Er sagt: Unsere Beziehungen zu Moskau und Peking sind genauso wichtig wie zu Washington und Brüssel. Lula ist Anhänger einer multipolaren Welt. Er will nicht Teil eines Blocks sein. Daher wird Brasilien unter ihm wahrscheinlich wieder zu einem international gefragten Vermittler.

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