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Andere Zeiten. Der Verfassungskonvent wurde bei Kerzenschein eröffnet - das elektrische Licht im Herrenchiemseer Schloss war eher schwach.

© Imago/Schoening, picture-alliance/dpa/Montage: Tagesspiegel

Wie das Grundgesetz entstanden ist: Am Anfang war eine Insel in Bayern

Chiemsee, nicht Bonn: Vor 75 Jahren begannen die Beratungen für die Verfassung eines neuen Bundesstaates. Eine kleine Runde prägte das Ergebnis vor.

Verfassungen entstehen nicht aus dem Nichts. Aber auch nicht in großen Versammlungen. Denn die haben den Ruf, sich zu verzetteln und nicht auf den Punkt zu kommen. Verfassungen entstehen in kleinen Runden.

Der Parlamentarische Rat, 61 Männer und vier Frauen, war nicht groß. Aber die geplante Versammlung zur Formulierung des Grundgesetzes war denjenigen, die sich im Sommer vor 75 Jahren die Köpfe zerbrachen, wie eine Verfassungsgebung gelingen könnte, noch nicht klein genug.

Am Ende war zwar Bonn der Ort der Entscheidung, als der Parlamentarische Rat im Mai 1949 das Grundgesetz für die neue Bundesrepublik beschloss. Am Anfang aber stand eine Insel in Bayern. Die Vorentscheidung fiel am Chiemsee, auf der Herreninsel, im dortigen Alten Schloss, im Zimmer mit der Nummer sieben. In sehr kleiner Runde.

Dort begann am 10. August 1948 eine Art Verfassungskonvent im Kleinen, demokratisch nicht gerade direkt legitimiert, aber doch von demokratisch Gewählten beauftragt. Jedes der elf Länder in den von Amerikanern, Briten und Franzosen beherrschten West-Zonen (plus das nicht stimmberechtigte Berlin) hatte Abgesandte benannt, Minister, Beamte, Wissenschaftler.

Aus „Trizonesien“ sollte ein Bundesstaat werden, ein Teilstaat auch, weil die endgültige Spaltung Deutschlands in zwei Staaten im Zeichen des Kalten Krieges zwischen West und Ost schon absehbar war. Den Auftrag, das hinzubekommen, hatten am 1. Juli die Ministerpräsidenten der elf West-Länder von den drei Militärgouverneuren bekommen. Schon zum 1. September sollte eine verfassunggebende Versammlung einberufen sein. In der drohte ein Problem – die Polarisierung zwischen Union und SPD.

Denn die Parteiführer Konrad Adenauer und Kurt Schumacher hatten zwar auch Verfassungsfragen im Sinn (weil die immer auch Machtfragen sind), vor allem aber konkurrierten sie darum, wer die erste Regierung im neuen Staat führen würde. Sie schielten über die Verfassungsgebung hinaus bereits auf die anstehenden Parlamentswahlen. 1949 sollten sie sich einen der heftigsten Wahlkämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik liefern.

Eine Kernfrage: Zentral oder föderal?

Verfassungspolitisch trennte sie einiges. Einigermaßen einig aber waren sie sich in einem Punkt: Sie waren – Schumacher eindeutig, Adenauer rheinisch-moderat – politische Zentralisten, auch weil sie als Kanzler möglichst viel Macht haben wollten. Und das hatten die Ministerpräsidenten als Gefahr geortet.

Sie waren schon von Amts wegen weniger unitarisch gesinnt, und die meisten von ihnen auch außerhalb des Amtes. Das galt vor allem für den bayerischen Regierungschef. Hans Ehards Credo lautete, dass in dem künftigen Bundesstaat die Eigenständigkeit und der bundespolitische Einfluss der Länder nicht so gering sein durfte wie in der Weimarer Republik. Seine Befürchtung teilten andere Länderchefs, aber sie waren stärker als der CSU-Politiker in die jeweilige Parteidisziplin eingebunden, und die verfügten Adenauer und Schumacher.

Das Zimmer im Augustiner-Chorherrenstift als Museum. 

© dpa/Andreas Gebert

Ehard war ein kluger Kopf. Er nahm den Vorschlag des hessischen SPD-Ministerpräsidenten Christian Stock gern auf, einen Verfassungsausschuss der Ministerpräsidentenkonferenz einzusetzen. Im Parlamentarischen Rat, das war klar, würden einige Verfassungsvorschläge vorliegen, nicht zuletzt die der Parteien, und damit Streitobjekte. Der Gedanke lag nahe, von Länderseite eine Arbeitsgrundlage in die Beratungen zu geben, die schon als Kompromissvorschlag gelten konnte.

Vorbild Landesverfassungen

Vieles, was in eine Gesamtstaatsverfassung gehört, war schon in den Landesverfassungen vorweggenommen worden. Daher war klar, dass es in Bonn nicht zuletzt um die Frage gehen würde, wie das Zusammenfügen der elf Länder in einen Bundesstaat geschehen sollte. Und damit um die Machtverteilung zwischen Bund und Ländern.

Also um die Frage, wie die Gesetzgebung aufgeteilt würde, wie eine Länderkammer aussehen sollte, wie die Finanzverfassung gestaltet würde. Ehard hatte das größte Interesse daran, den Ländervorschlag so weit als möglich im bayerischen Sinne zu gestalten. So lud die Staatsregierung in München auf die Insel im Chiemsee.

Bayerischer Überhang

Bis zum 23. August tagte der kleine Kongress. Den Vorsitz führte Anton Pfeiffer, der Leiter von Ehards Staatskanzlei. Er hatte einen ganzen Stab von Mitarbeitern um sich versammelt, zudem lag schon am ersten Tag ein bayerischer Vorschlag für eine neue Verfassung auf dem Tisch. Um die Konventsteilnehmer für bayerische Anliegen zu erwärmen, fand zudem am 13. August in der Gaststätte Holzmüller in München ein „Nachtessen bayerischer Art“ mit der Staatsregierung statt.

Idylle in Oberbayern: Die Herreninsel im Chiemsee.

© Imago Images

Die SPD-Ministerpräsidenten nahmen das Treffen formal weniger wichtig, sie waren unter der Fuchtel der „Hannover-Clique“, wie Stocks Abgesandter Hermann Louis Brill das in der niedersächsischen Hauptstadt angesiedelte Machtzentrum der SPD um Schumacher nannte. Die SPD-Oberen nahmen das Treffen auf Herrenchiemsee nicht sonderlich ernst.

Davon beeindruckt schrieb der „Spiegel“ zum Abschluss des Konvents: „Prominente Vertreter unkten am Ende resignierend, der Parlamentarische Rat werde das Herrenchiemseer Verfassungswerk beiseitelegen. 25.000 D-Mark kostete dieses Juristen-Experiment dem bayrischen Staatssäckel.“

Ein umtriebiger Nazi-Gegner

Brill, ein Nazi-Gegner, der Zuchthaus und KZ-Haft hinter sich hatte, nahm das Treffen ernst. Ihm vor allem ist es zu danken, dass das heutige Grundgesetz mit dem Katalog an Grundrechten beginnt. Der bekannteste Sozialdemokrat beim Verfassungskonvent aber war der spätere Bundestags-Vizepräsident Carlo Schmid (in Herrenchiemsee-Akten auch noch Karl Schmid, Brill nannte ihn „Don Carlos“). Auf Unions-Seite prägte neben Pfeiffer und dem bayerischen Justiz-Staatssekretär Josef Schwalber vor allem der rheinland-pfälzische Justizminister Adolf Süsterhenn den Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee.

Die Männerrunde (einige hatten ihre Ehefrauen mitgebracht) debattierte in den zwei Wochen fast durchgehend, im Plenum, dann in Ausschüssen. Ein Sonntag war frei, man besichtigte die benachbarte Fraueninsel. Täglich um 17 Uhr gab es eine Pressekonferenz für die gut zwei Dutzend Journalisten, die das Ereignis begleiteten – bei nur zwei Telefonen auf der Insel kein einfacher Job. Nach dem Abendessen um 19 Uhr ging es oft bis nach Mitternacht weiter.

Bayerisches Kernanliegen

Mit seinem Hauptanliegen hatte Ehard durchaus Erfolg. Der Bundesrat wurde im Parlamentarischen Rat nicht nach dem US-Vorbild als Senat mit gewählten Volksvertretern organisiert (das hatte vor allem die SPD verlangt), sondern in der Nachfolge der früheren Länderkammern als Vertretung der Landesregierungen.

Der Schlusspunkt: Konrad Adenauer, Vorsitzender im Parlamentarischen Rat, unterschreibt am 23. Mai 1949 das fertige Grundgesetz.

© dpa/AP/Hanns J. Jaeger

Die kleine Revolution, die der Herrenchiemsee-Entwurf brachte, war die Abkehr vom Gesandtenkongress, der seit 1815 Praxis war. Fortan sollten nicht weisungsgebundene Beamte, sondern die Mitglieder der Landesregierungen, also demokratisch legitimierte Politiker, dem Bundesrat angehören. Dessen Sitzungen wurden dann auch parlamentarisch organisiert, als Plenumsdebatten wie im Bundestag.

Welchen Einfluss hatte der Konvent der Sachverständigen? Pfeiffers Ansicht in einem Gespräch mit Brill hat dieser in seinem Tagebuch erwähnt: „Sagen wir es doch offen: Wir machen für den Parlamentarischen Rat eine Idiotenfibel.“

Am Ende war es deutlich mehr als das. Der Entwurf von Herrenchiemsee hatte 149 Artikel, mal ausformulierte Konsensvorschläge, mal in Mehrheits- und Minderheitsvorschlag geteilt. Sehr vieles findet sich, bisweilen wörtlich, im Grundgesetz wieder, das der Parlamentarische Rat dann im Mai 1949 beschloss.

Nur der erste Satz im ersten Artikel des Entwurfs fand keine Gnade in der Bonner Versammlung. Er lautete: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Das fanden manche dann doch etwas zu viel des Guten. Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident, ganz liberaler Etatist, mokierte sich, man dürfe mit solch einem Satz „die innere Würde des Staates nicht kränken“.

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