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Sport: Ein Märchen mit Ballack

Der Höhepunkt des Spiels fand für mich eindeutig nicht auf dem Rasen statt, sondern auf der Herrentoilette. Mit Klaus Fischer am Pissoir!

Der Höhepunkt des Spiels fand für mich eindeutig nicht auf dem Rasen statt, sondern auf der Herrentoilette. Mit Klaus Fischer am Pissoir! Man schaut gerührt in die Tiefe des weißen Porzellans und sieht eine ganze Kindheit aufsteigen: Flankenlauf von Rüdiger Abramczik für Schalke und dann – der berühmte Fischer-Fallrückzieher! Ein kurzer Blick nach links zu Fischer, ebenfalls ins Porzellan vertieft: Wie sich aus einem älteren Mann plötzlich das junge Fußballgesicht herausschält. Ich überlege noch zu sagen: „Lieber Klaus Fischer, entschuldigen Sie die Störung, aber Ihren Fallrückzieher zum Ausgleich gegen Frankreich im WM-Halbfinale 1982 sehe ich immer noch, danke!“ Da geht Fischer weg.

Auf der DFB-Tribüne sieht man bei Länderspielen inzwischen überall Kindheitsbilder, die aus den feister, müder, älter gewordenen Gesichtern aufsteigen wie Märchen: Rainer Bonhof, der Freistoßspezialist, hat immer weniger Haare. Heute stehen die spielenden Kinder wie Ronaldo breitbeinig vor dem Freistoß, damals standen wir wie Bonhof am Ball – wie ein Architekt, der Raum, Abstand, Mauer und den Winkel vermisst.

Und da: Uwe Seeler! Da kenne ich nur die berühmten Bilder, das Hinterkopftor 1970 in Mexiko gegen England. Ich schaue Seeler drei Minuten auf den Hinterkopf, fast meditativ, immer noch besser als Deutschland gegen Australien. Unweit von Seeler sitzt Herbert Laumen aus der Weisweiler-Elf des Gladbacher Fohlen-Sturms. Ich frage Laumen später am Pissoir (ich musste oft!), wie viele Tore es denn waren, damals am Bökelberg? „121!“, sagt Laumen mit einem Leuchten in den Augen, das schöner ist als alles an diesem Abend im Borussia-Park.

Der Fußball ist wie ein Märchen, das immer wieder erzählt wird. Direkt vor mir sitzt Karlheinz Pflipsen, daneben Marco Bode, der Philosoph unter den Fußballern, Guido Buchwald, der Maradona-Alptraum aus dem WM-Finale von Rom, Stefan Reuter, Christian Ziege und, ja, Michael Ballack. Wie ein kommendes altes Märchen, das später aus der Erinnerung ab und an wieder aufsteigen wird, sitzt da auch Ballack. Er wird vom mächtigen Körper Kalli Calmunds abgeschirmt, wie in Schutz genommen vor dem Vergessen.

Moritz Rinke ist Schriftsteller, Stürmer der Autoren-Nationalmannschaft und Autor des Tagesspiegel.

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