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Die „Maus“ nimmt ein neues Video zur Entführung von Schnabel (Martin Brambach) auf, mit seinen Forderungen.

© MDR/MadeFor/Marcus Glahn

Tatort im MDR: „Pizzagate“ auf Sächsisch

Die Dresdner „Tatort“ ist ein fesselnder Thriller über einen Mann im Verschwörungswahn.

Die Journalistin eines Dresdner Boulevardblatts wird entführt. Er wolle sie nicht töten, ihr nicht einmal weh tun, beteuert ihr Entführer, der sich hinter einer Maus-Maske verbirgt. „Ich will nur meine Tochter zurück.“ Über eine Verschwörungs-Plattform stellt er ein rätselhaftes Video ins Netz, in dem er stumm vor die Kamera tritt und Hand- und Lichtsignale sendet, ergänzt durch eine Vielzahl an Kinderfotos.

Außerdem beginnt er einen Countdown, der der Polizei 24 Stunden Zeit lässt, sein Bilderrätsel zu lösen und die versteckten Forderungen zu erfüllen. Knapp zehn Stunden vor Ablauf droht er mit der Erschießung seiner Geisel, wenn die Polizei nicht 150 verschwundene Kinder befreit. („Tatort – Katz und Maus“, Sonntag, ARD, 20 Uhr 15)

Mit einem enorm spannenden Thriller um einen Mann, der sich nach dem Verschwinden seiner Tochter in einer Verschwörungserzählung verliert, verabschiedet sich der „Tatort“ in eine durch die Fußball-WM bedingte mehrwöchige Pause. An den nächsten beiden Sonntagen zeigt die ARD Wiederholungen, am 11. Dezember folgt ein frischer „Polizeiruf“ aus Brandenburg. Erst am vierten Advent ist wieder der „Tatort“ (aus Berlin) an der Reihe.

Am Tag der WM-Eröffnung aber spielt Gregory Kirchhoff, 30, laut Angaben des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) der jüngste „Tatort“-Regisseur aller Zeiten, erst einmal „Katz und Maus“, so der Dresdner Episoden-Titel. Bei seinem „Tatort“-Debüt beweist der gebürtige Hamburger nach bisher drei Kinodramen („Dusky Paradise“, „Ostfriesisch für Anfänger“, „Baumbacher Syndrome“) einiges Gespür für das Genre Thriller und beschert dem TV-Dauerbrenner einen Film, der etwas länger als üblich im Gedächtnis bleiben dürfte.

Immerhin singt Ryan Gosling

Von Beginn an drückt das Drehbuch (Jan Cronauer, Stefanie Veith) aufs Tempo. Nach gut 20 Minuten ist die Journalistin Brigitte Burkhard (Elisabeth Baulitz) tatsächlich tot und Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) bereits das nächste Entführungsopfer. Die herbe Szenenfolge inszeniert Kirchhoff wie ein Musikvideo, in dem die Bilder dem Rhythmus der Musik folgen. Immerhin singt Ryan Gosling, die eine Hälfte von Dead Man’s Bones, den Song „Lose Your Soul“.

Die üblichen Krimi-Gesetze sind hier außer Kraft gesetzt. Denn der schon bald entlarvte Täter Michael Sobotta (Hans Löw) ist nicht erreichbar für Fakten und Vernunft – das macht ihn unberechenbar und unbeirrbar, denn alternative Erklärungen finden sich immer. Cronauer und Veith treiben das Spiel nervenzehrend auf die Spitze, dafür bedürfte es nicht mal des Countdowns als Spannungstreiber.

Sobottas rechtsgeschwurbelten Sound kennt man: „Sie arbeiten für einen Polizei-Apparat, der sich gegen das eigene Volk stellt“, wirft er dem angeketteten Schnabel vor. Allerdings spielt Hans Löw nicht das Klischee eines krakeelenden Wutbürgers. Sobotta wirkt in sich gekehrt, kontrolliert und entschlossen. Er hat einen schweren persönlichen Verlust erlitten und hat auch allen Grund, auf die Journalistin sauer zu sein. Nach dem Verschwinden seiner Tochter Zoe (Alida Bohnen) wurde gegen ihn ermittelt, und Burkhard verdrehte in einem Artikel die Tatsachen.

Verblödung durch das Internet

Sobottas Ex-Frau Nathalie (Christina Hecke) schildert ihn als freundlichen, engagierten Typen, der allerdings „sehr wütend“ werden kann. Zoe ist vor Jahren von zu Hause weggelaufen, nachdem ihr Vater Zoes Freund verprügelt hatte. Der feste Glaube, dass seine Tochter Opfer eines Kinderschänderrings geworden ist, hat nun den Vorteil, dass sich Michael Sobotta die eigene Schuld nicht eingestehen muss.

„Pizzagate“ lässt grüßen: Die Verleumdungskampagne gegen US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, die Teil eines aus dem Keller einer Pizzeria operierenden Kinderpornorings gewesen sein soll, waren „der konkrete Auslöser für unsere Geschichte“, sagt Autor Cronauer.

Entwickelt wurde das Drehbuch schließlich während der Pandemie, in der sie im eigenen Bekanntenkreis immer wieder auf Menschen gestoßen seien, „die in einigen Bereichen ihres Lebens die Realität zugunsten einer alternativen Wahrheit verlassen hatten“, ergänzt Autorin Veith.

Den Urhebern für die von Schnabel beklagte „Verblödung durch das Internet“ gibt der Film auch ein Gesicht: Keine (womöglich russische) Troll-Armeen, sondern nur ein gewiefter Teenager (Paul Ahrens) macht auf seinem Portal „Grinsekatze“ beste Geschäfte mit Fake News und Verschwörungserzählungen. Ein Zitat aus „Alice im Wunderland“ durfte bei diesem Thema wohl nicht fehlen.

Die Fieberkurve steigt stetig in diesem wendungsreichen Thriller. Löw und Brambach liefern sich ein packendes Duell in dem Versteck des Entführers, während die beiden Oberkommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) bei den Ermittlungen zunehmend am Rad drehen – und schließlich darüber streiten, ob es einer weiteren Fälschung bedarf, um den Täter aufzuhalten. Dieser „Fake“ würde sich allerdings unaufhaltsam im Netz verbreiten und wäre ein gefundenes Fressen für alle „Grinsekatzen“.

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