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Wirtschaft: Berliner Wirtschaft: Die Dinge liegen im Augenblick schwierig, aber die Perspektiven sind gut

BERLIN .Der Wirtschaftssenator begann mit einer kühnen These: "Der Aufschwung ist da", behauptete Wolfgang Branoner, und war damit ziemlich weit weg von Bewag-Chef Dietmar Winje: "Berlin steckt in einer Rezession, und deren Ende ist nicht in Sicht.

BERLIN .Der Wirtschaftssenator begann mit einer kühnen These: "Der Aufschwung ist da", behauptete Wolfgang Branoner, und war damit ziemlich weit weg von Bewag-Chef Dietmar Winje: "Berlin steckt in einer Rezession, und deren Ende ist nicht in Sicht." Doch irgendwie scheint auch in diesem Fall die Wahrheit in der Mitte zu liegen.Hartmann Kleiner jedenfalls, Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände in Berlin-Brandenburg (UVB), entdeckte Dynamik im Umland."Wenn man zu einer regionalen Sichtweite kommt, also über die Stadtgrenzen hinweg blickt, dann ist der Aufschwung da." Wirklich problematisch seien die Randregionen Brandenburgs, wo die Beschäftigung in den vergangenen fünf Jahren enorm zurückgegangen sei.

"Der Aufschwung läßt grüßen - Berliner Wirtschaft im Jahre 10 nach der Wende", zu diesem Thema diskutierten am Montag abend Unternehmer, Politiker und Verbandsfunktionäre im Hotel Inter-Continental.Tenor: Die Vergangenheit war deprimierend, die Gegenwart ist schwierig, die Zukunft vielversprechend.Thomas Hertz, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer, berichtete von der jüngsten Konjunkturumfrage der IHK, wonach die Stimmung in der Industrie immer schlechter wird.Kaum zu glauben: Nachdem in Berlin seit der Wende die Zahl industrieller Arbeitsplätze laut Branoner von

400 000 auf 130 000 gesunken ist, geht es noch weiter abwärts.Für Tagesspiegel-Herausgeber Heik Afheldt ist es indes ein normaler Vorgang, daß die Industrie aus Ballungsgebieten verschwindet."In Berlin gibt es noch immer mehr Industrie als in Hamburg." Demnach sei in der Hauptstadt mit weiteren Abwanderungen oder Betriebsschließungen zu rechnen.

Also alle Hoffnung auf den (wachsenden) Dienstleistungsbereich, auf Existenzgründer und die Hauptstadteffekte."Die Dinge liegen im Augenblick schwierig, aber es gibt gute Zukunftsperspektiven", meinte UVB-Chef Kleiner, und wies auf 80 000 Existengründer seit 1990 hin."Das ist ein Hefeteig." Afheldt sprach im gleichen Zusammenhang "von Beeten für heterogene Dienstleistungstätigkeiten", die gepflegt werden müßten.So plädierte er für eine Unterstützung der Ladenschluß-Rebellen vom Potsdamer Platz.Auch im Hinblick auf Dienstleistungen warnte Wirtschaftssenator Branoner vor einer Unterschätzung der Hauptstadteffekte.Bereits heute fließe im Zusammenhang mit Kongressen rund eine Mrd.DM an Kaufkraft jedes Jahr nach Berlin; am Standort von Regierung und Parlament, Verbänden und Lobbyisten sei das ausbaufähig.

Schließlich waren sich die Diskussionsteilnehmer einig, daß die Hauptstadt Berlin Anziehungskraft ausübt auf Unternehmen - zumal aus den USA - die in Europa einen Standort suchen.Aber der Wettbewerb der Metropolen um diese Headquarters wird schärfer und verlagert sich gen Osten; in Prag, Budapest, und Warschau entstehen neue Konkurrenten Berlins.Noch immer jedoch wird Berlin im Ausland "mit großen Vorschußlorbeeren" bedacht, wie Afheldt beobachtet hat.Kleiner erwähnte hier die Partnerschaften mit Unternehmensverbänden in Lyon, Turin und Barcelona, die Berlin "als Sprungbrett" nach Osteuropa nutzten.

Mit einer wirtschaftsfreundlichen Verwaltung, sauberen Straßen und Häusern sowie freundlichen Bewohnern sollen Investoren und Arbeitsplätze in die Stadt gelockt werden.Der Bewag-Vorstandsvorsitzende Winje erläutert "das reale Verwaltungshandeln" mit Hilfe eines Schriftverkehrs zwischen Bewag und Behörde, der die Brutstätte eines Haussperlings in einer Bewag-Fassade zum Gegenstand hat.Hertz beklagt zu lange Planungs- und Genehmigungszeiten, Winje vermißt "das allgemein wirtschaftsfreundliche Umfeld und Branoner wünscht sich eine "Innovations- und Kooperationskultur".Insbesondere der von allen erhoffte Schub bei Dienstleistung könnte nach Afheldts Meinung durch entschlacktes Verwaltungshandeln und durch weniger Vorschriften gezündet werden.Zwar sei für ihn als Neu-Berliner "die Aufbruchstimmung in der Stadt ansteckend", sagt der Tagesspiegel-Herausgeber.Aber Berlin sei zu schmutzig, wobei doch Sauberkeit ein "sehr ernster Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit ist".

Sauberkeit und Freundlichkeit und Gastfreundschaft - schließlich ist jeder Besucher ein potentieller Kunde.Branoner wünscht sich mehr Offenheit gegenüber Gästen oder Investoren von außen sowie echte Kundenorientierung.In dem Zusammenhang nennt er BVG und BSR.Grundsätzlich, so reklamiert der wortstarke Wirtschaftssenator, "brauchen wir Mitmacher und keine Miesmacher".In ein ähnliches Horn bläst ein Zuhörer, der eine negative Berlin-Berichterstattung in den hiesigen Zeitungen ausgemacht hat.Dabei gebe es in Berlin "alles, was das Herz, der Körper und die Seele begehrt".Allein: "Die Einzigen, die das nicht merken, sind die West-Berliner."

Das kann IHK-Hertz - kein gebürtiger West-Berliner - so nicht stehen lassen."Es wird manchmal schick, die West-Berliner zu Watschenmännern zu machen", hat der Hauptgeschäftsführer beobachtet.Dabei habe doch "die Unternehmerschaft großen Widerstand in den letzten zehn Jahren" im Hinblick auf die Überlebensfähigkeit im Strukturwandel gezeigt.Im übrigen fänden gegenwärtig rund 150 000 Pendler aus dem Ostteil der Stadt sowie aus Brandenburg im Westteil Arbeit.Auch dieser Umstand belege die "Dynamik in der Stadt".Bei allem Aufbruch, so resümierte Moderator George Turner, mangele es gelegentlich "an der Bereitschaft der Bevölkerung mitzumachen".Oder wie es ein Zuhörer - auch mit Blick auf das Podium - sagte: "Wir müssen alle Lächeln lernen."

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