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Werkvertrags- und Leiharbeitnehmer sind seit diesem Jahr in der Branche verboten. Es gab zu viel Missbrauch.

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Mindestlohn für die Fleischwirtschaft: Der Preis der Wurst

In den Verhandlungen für rund 160 000 Beschäftigte geht es erstmals um einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag - auch gegen das miese Image.

Wann kommt die Zwölf? Diese Frage beschäftigt heute rund zwei Dutzend Arbeitgebervertreter und Gewerkschafter in einem Hamburger Hotel. Die Tarifverhandlungen um einen Mindestlohn in der Fleischwirtschaft kommen in die entscheidende Phase. „Wir haben die historische Chance, ein Ergebnis für alle Beschäftigten in der Branche zu erreichen“, sagt Vehid Alemic, Hauptgeschäftsführer des norddeutschen Verbands der Ernährungswirtschaft. Aus verschiedenen Gründen sind die Arbeitgeber jetzt bereit zu einem Flächentarif. „Ohne einen Branchentarifvertrag haben wir einen Flickenteppich bei den Arbeitsbedingungen“, sagt Alemic und bietet einen Mindestlohn von 10,75 Euro an, der bis Ende 2024 auf zwölf Euro steigen soll. Der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) reicht das nicht. „Wir wollen 12,50 Euro jetzt.“

Der Gesetzgeber hat eingegriffen

Die Fleischwirtschaft ist eine besondere Branche. Eine Handvoll Konzerne bestimmt das Geschäft mit der Schlachtung und Zerlegung, die anschließende Weiterverarbeitung ist eher mittelständisch geprägt. Seit beinahe 20 Jahren wird um anständige Arbeitsbedingungen und faire Löhne gerungen, mal mit staatlichen Vorgaben, mal mit Hilfe von Selbstverpflichtungen. Als im vergangenen Sommer Coronawellen durch die Schlachthöfe schwappten und Öffentlichkeit und Politik mal wieder entsetzt waren über die Zustände, schlug die Bundesregierung zu: Seit diesem Jahr ist der Einsatz von Werkverträgen und Leiharbeitern verboten. Vor allem die Schlachthofkonzerne – Tönnies, Vion und Westfleisch sind die größten – mussten Tausende Werkvertragsarbeitnehmer aus Osteuropa einstellen.

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Die Gewerkschaft NGG tut sich schwer in der Branche, da sie zu wenige Mitglieder hat. Im Fleischerhandwerk gibt es hier und da Flächentarifverträge und in einigen Industriebetrieben gelten Haustarife. Durch das rabiate Vorgehen des Gesetzgebers und die allenthalben zu hörenden Bekenntnisse zu Flächentarifen bekam die Gewerkschaft Rückenwind. Mehr als 1000 neue Mitglieder habe man geworben in den Fleisch- und Wurstbetrieben, erzählt Freddy Adjan. „Was wir während der Pandemie in der Gastronomie verlieren, gleichen wir so fast aus“, sagt das NGG-Vorstandsmitglied, das die Tarifverhandlungen führt.

Die Coronawelle bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück, dem größten Schlachthof Europas, warf im vergangenen Sommer ein Schlaglicht auf die Arbeitsbedingungen in der Branche.

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Die Branche ist heterogen

An der Spitze der Arbeitgeber sitzt Theo Egbers, gelernter Fleischer, Betriebswirt und Geschäftsführer in der Zur-Mühlen-Gruppe (Gutfried, Böklunder, Redlefsen), die zum Tönnies-Konzern gehört. „Jetzt können wir zeigen, dass die Sozialpartnerschaft in der Branche funktioniert“, sagte Egbers dem Tagesspiegel. „Wir wollen jetzt einen Sockel mit dem Mindestlohn-Tarifvertrag.“ Das klingt gut, aber Egbers hat Mühe, die extrem fragmentierte Branche mit diversen Verbänden und divergierenden Interessen auf einen Nenner zu bringen. Die Industriebetriebe wollen einen Flächentarif, die kleinen Familienbetriebe eher nicht. Deshalb soll der Tarif, sofern es ihn denn gibt, vom Bundesarbeitsministerium auch für allgemeinverbindlich erklärt werden.

Viele bekommen nur 9,50 Euro

Rund 160 000 Personen arbeiten in der Branche, von denen ein großer Teil nur den gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 9,50 Euro bekommt. Diese Untergrenze steigt bis Juli kommenden Jahres auf 10,45 Euro. Wie es dann weitergeht, hängt von der Bundestagswahl ab: SPD, Grüne und Linke wollen zwölf Euro. Egbers hatte der NGG zuletzt 10,50 Euro angeboten und eine stufenweise weitere Anhebung auf zwölf Euro bis Ende 2023.

Etwa 70 000 Beschäftigte würden davon profitieren, „weil sie derzeit ganz ohne Tarifbindung sind und viele von ihnen auf dem Niveau des gesetzlichen Mindestlohns von 9,50 Euro verdienen“, sagt Egbers. „Wir brauchen Augenmaß und dürfen die Betriebe nicht überbelasten“, meint er und argumentiert unter anderem mit einem Ost-West-Gefälle: Die ostdeutschen Betrieben zahlen häufiger nur die gesetzlichen 9,50 Euro als die Betriebe im Westen. Mehr als 30 Jahre nach der staatlichen Einheit soll der Branchenmindestlohn, sofern es ihn denn gibt, dennoch für Ost und West gleichermaßen gelten. Darauf haben sich die Arbeitgeber inzwischen eingelassen.

Die Gewerkschaft will 12,50 Euro

Die NGG wiederum hat mit den 12,50 Euro ab sofort die Latte hoch gelegt – und Erwartungen geweckt, zumal bei den neuen Mitgliedern aus Osteuropa, die womöglich nur ein paar Jahre hierbleiben und so schnell wie möglich so viel Geld wie möglich verdienen wollen. „Wenn ein Amazon um die Ecke aufmacht und mehr bietet, dann sind die weg“, sagt NGG-Vorstand Adjan. Deshalb müssten die Fleischbetriebe ein Interesse haben an einem ordentlichen Mindestlohn.

Mit ein paar Dutzend Streikaktionen hat die NGG bislang versucht, Druck zu machen, doch das bewirkte nicht viel. Richtig weh tut ein Streik erst dann, wenn die Grillsaison auf Touren kommt und der Handel entsprechend Fleisch ordert. Das war bislang wegen des miesen Frühlingswetters nicht der Fall. Wenn es an diesem Donnerstag nicht vorangeht bei den Verhandlungen, „müssen wir wieder anziehen“, sagte Adjan dem Tagesspiegel. Das Wetter soll in der kommenden Woche sommerlich werden.

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