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© picture alliance / dpa/Raimund Haser

Selbsthilfe, Selbstverantwortung: „Die Idee der Genossenschaft ist topaktuell“

Klimawandel, fehlende Infrastruktur: Rechtsexperte Friedrich Markmann erklärt, wie Genossenschaften dazu beitragen können, Krisen zu bewältigen.

In Deutschland gibt es derzeit etwa 7800 Genossenschaften, vor gut 60 Jahren jedoch waren es 27 144. Ist das knapp 180 Jahre alte Modell Genossenschaft inzwischen etwas angestaubt? 
Nein, von einem angestaubten Image kann man nicht sprechen. 2019 gab es eine repräsentative Befragung zum Image der Genossenschaften in der deutschen Bevölkerung. Sie hat ganz im Gegenteil ergeben: Genossenschaften werden insgesamt gut und positiv wahrgenommen. Hinzu kommt, dass sich Genossenschaften neben ihren traditionellen Einsatzfeldern im Wohnungsbau oder im Bankbereich zuletzt ganz innovative, neue Räume erschlossen haben. So sind beispielsweise auf dem Land genossenschaftlich organisierte Coworking-Spaces entstanden, Gärtnereigenossenschaften oder Arzt-Genossenschaften, die die Versorgung mit Hausärzten in der Fläche sicherstellen sollten.

Warum dann der Rückgang?
In den vergangenen Jahren lag die Zahl der Genossenschaften stabil bei etwa 7800. Und nach wie vor ist etwa ein Viertel der Deutschen Mitglied in einer Genossenschaft. Dass es insgesamt weniger Genossenschaften gibt als vor 50 oder mehr Jahren, liegt vor allem an vielen Fusionen.

Wo war das genossenschaftliche Modell zuletzt am erfolgreichsten? 
Sehr erfolgreich waren Genossenschaften im Bereich Energie. Zwischen 2005 und 2021 wurden bundesweit über 1000 neue Energiegenossenschaften gegründet, von Photovoltaik- über Wind- bis zu Biogasgenossenschaften. Sehr viele Neugründungen gab es auch im Bereich sonstiger Dienstleistungen, ein Beispiel wären hier genossenschaftliche Gasthäuser. 

Wo sehen Sie die wichtigsten Aufgaben von Genossenschaften in unserer Gesellschaft?
Gerade in der heutigen Zeit mit ihren vielfältigen Krisen, von der Energiekrise über die Klimakrise bis zum russischen Angriff auf die Ukraine, sind die genossenschaftlichen Grundprinzipien eigentlich topaktuell. Selbsthilfe, Selbstverwaltung, Selbstverantwortung, das basisdemokratische Prinzip, die Idee, dass mehrere ein kollektives Ziel verfolgen und davon jeder einzelne profitiert – oder dass der Nutzen für jeden Vorrang hat vor der Gewinnmaximierung: Das sind Grundsätze, die schon vor mehr als 150 Jahren, als Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch ihre Genossenschaftsmodelle in Deutschland gründeten, geholfen haben bei der Bewältigung von Krisen.

Damals wollte man der notleidenden ländlichen Bevölkerung helfen ...
Heute stehen in den Gründungstexten ebenfalls Krisenlösungen im Vordergrund. Die Bäckerei Klausberger in Schleswig-Holstein beispielsweise, bisher ein Familienbetrieb, hat gerade beschlossen, sich wegen der Kostenexplosion bei Energie und Zutaten mit Kunden und Mitarbeitern in die Genossenschaft Bäckerslüüd umzuwandeln und damit zu verhindern, von einer Großbäckerei geschluckt zu werden. Die Genossenschafter erhalten die Backwaren dann günstiger und allen ist geholfen. Insgesamt zeigt dies: Die Idee der Genossenschaft ist zwar alt, aber keinesfalls altbacken. 

Inwieweit hat sich der genossenschaftliche Gedanke weltweit verbreitet? 
Weltweit gibt es derzeit 3 Millionen Genossenschaften mit weit mehr als einer Milliarde Mitgliedern und 280 Millionen Mitarbeitenden. Die Prinzipien sind überall die gleichen: es dominieren die Ideen von Solidarität, Selbsthilfe und gleichberechtigter Teilhabe. In den USA gibt es 40 000 Genossenschaften, in Finnland sind 72 Prozent der Bevölkerung Mitglied in einer oder mehreren Genossenschaften, in Frankreich arbeiten 1,2 Millionen Menschen in einer Genossenschaft, mehr als in jedem anderen Land. 

Wo sehen Sie die größten Chancen für genossenschaftliches Tun in der Zukunft?
Sehr viel Potenzial haben weiter vor allem Energiegenossenschaften im Bereich der Erneuerbaren Energien, denn sie vereinen mehrere Ziele: Einerseits garantieren sie mehr Unabhängigkeit von den großen Energieversorgern und auch vom Ausland, sind hilfreich gegen den Klimawandel, andererseits fördern sie eine dezentrale Energieversorgung und unterstützen dabei auch die Identifikation der Genossen mit ihrer Region. Viel Zukunft haben meines Erachtens auch Genossenschaften, die ausgedünnte kommunale Infrastrukturen auf dem Land ersetzen, also beispielsweise Treffpunkte, Gasthäuser, Nahverkehr. Solche Projekte könnten auch direkt von den Kommunen mitgetragen und unterstützt werden, materiell mit Geld wie auch immateriell bei der Vermarktung. 

Gerade bei Genossenschaften braucht es Menschen, die sich engagieren. Fehlt es daran nicht in der Gegenwart? 
Ja, das ist ein Problem. Allerdings ist vielen der Genossenschaftsgedanke auch noch nicht vollends bewusst. Es kommt also darauf an, weiter für die Rechtsform zu werben. Genossenschaften sind kein Allheilmittel für jeden Zweck, aber in vielen Bereichen erfolgreich und sinnvoll. Sie sind ja mittlerweile auch immaterielles Weltkulturerbe – und die Förderung von Genossenschaften ist in einigen Länderverfassungen verankert, dazu auch Teil der Koalitionsverträge im Bund und in Berlin. 

Das Wort Genosse kommt ursprünglich von „Genuss“…
Ja, das Wort leitet sich vom althochdeutschen Wort Ginoz ab, das bedeutet in etwa, man möge etwas mit jemand anderem genießen. Das Idiom ist also eine sehr schöne Übertragung dafür, was eine Genossenschaft ausmacht: In den Genuss von Unterstützung kommen, etwas Gemeinsames schaffen und gemeinsam genießen. 

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