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Dazulernen. Die Teilnehmer können einen Schulabschluss nachholen, einen Sprachkurs besuchen oder eine fachbezogene Ausbildung absolvieren.

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Weiterbildungsjahr für alle: Vorbild Österreich: "Vor allem Frauen und Höherqualifizierte nehmen die Auszeit vom Job in Anspruch"

Welche Erfahrungen das Nachbarland mit der "Bildungskarenz" gemacht hat, erklärt der Wiener Wissenschaftler Lorenz Lassnigg im Interview.

Herr Lassnigg, 1998 wurde in Österreich die "Bildungskarenz" eingeführt, die Modell steht für das neue Weiterbildungsjahr, das in Deutschland 2023 starten soll. Sie forschen am Institut für Höhere Studien in Wien und haben an Evaluationen des österreichischen Bildungsjahres mitgearbeitet. Worum geht es dabei im Kern?
Unselbstständig Beschäftigte können sich für Weiterbildungszwecke von ihrer Arbeit freistellen lassen – gegen Entfall ihrer Bezüge – und werden in dieser Zeit mit dem Weiterbildungsgeld in der Höhe des Arbeitslosengeldes unterstützt.

Um Arbeitslosigkeit zu verhindern?
Die Idee war, berufliche oder berufsbezogene Weiterbildung zu fördern, um die Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern. Die Teilnehmer können etwa einen Schulabschluss nachholen, einen Sprachkurs besuchen oder eine fachbezogene Ausbildung absolvieren.

Wie viele Wochenstunden bleiben dafür?
In der Regel mindestens 20.

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Wer kann sich bewerben?
Wer zumindest sechs Monate regulär in einem Betrieb beschäftigt war, die Zustimmung des Arbeitgebers und Anspruch auf Arbeitslosengeld hat.

Und wird die Karenz von vielen genutzt?
Das Interesse steigt. Im vergangenen Jahr haben im Schnitt rund 12.600 Personen Weiterbildungsgeld bezogen, im Jahr 2014 waren es nur rund 8600.

Sind eher Frauen dabei oder Männer, Ältere oder Jüngere?
Überproportional häufig wird die Bildungskarenz von Frauen und Personen im Haupterwerbsalter in Anspruch genommen, seltener dagegen von Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft beziehungsweise mit Migrationshintergrund oder Personen ab 50 Jahren.

Überproportional viele Teilnehmer sind höherqualifiziert und haben eine hohe Bildungsneigung, fast die Hälfte (46 Prozent) hat mindestens die mit dem deutschen Abitur vergleichbare Matura abgelegt. Diese Gruppe an Teilnehmern will sich in der Regel beruflich verändern oder eine Auszeit vom Job nehmen. Außerdem kommt es nicht selten vor, dass die Bildungskarenz von berufstätigen Studierenden genutzt wird, um Lücken im Stipendienwesen zu umgehen, dazu war sie allerdings nicht gedacht.

Fördern Arbeitgeber, dass ihre Mitarbeiter teilnehmen?
Jeder Fünfte hat auf Initiative des Arbeitgebers teilgenommen. Etwa die Hälfte dieser Teilnehmer hat eine fachliche Weiterbildung absolviert, die übrigen nahmen an anderen formalen Studien teil oder haben sich persönlich fortgebildet.

Die Förderung wird aber eher nicht genutzt, um Grundqualifikationen wie den Pflichtschulabschluss, eine Lehre oder den Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule nachzuholen. Woran liegt das?
Für diese Anforderungen gibt es eigene spezialisierte Programme.
Außerdem dürften geringer Qualifizierte schlechter finanziell abgesichert sein. Denn nicht nur ihr Einkommen fällt ja häufig merklich niedriger aus als bei Höherqualifizierten, sondern entsprechend auch die Einkommensersatzleistung während der Bildungsphase.

Was wollen die Beschäftigten lernen?
Das Interesse ist sehr breit gestreut. Etwa die Hälfte der Teilnehmer:innen besucht laut einer Evaluierung eine formale Ausbildung, davon besucht jeder dritte eine Hochschule, jeder Zehnte erwirbt eine Studienberechtigung oder macht eine Meisterprüfung. Etwa 20 Prozent der Teilnehmer haben dagegen fachliche Angebote zur beruflichen Weiterbildung ohne formale Abschlüsse wahrgenommen, am häufigsten in Gesundheits- und Sozialberufen.

Kann das Jahr auch in einzelne Weiterbildungsmodule aufgeteilt werden? Oder nur ein halbes Jahr genommen werden?
Ja, das ist möglich.

[Lesen Sie auch: Auszeit von der Arbeit - Wie das Weiterbildungsjahr für alle möglich gemacht werden soll. (T+)]

Wie erfolgreich ist die Bildungskarenz?
Sie war und ist eine vielfältige und widersprüchliche Maßnahme. Ursprünglich sollte sie der Erwachsenenbildung dienen, da sie aber an den Arbeitsmarktservice, dem österreichischen Pendant der deutschen Jobagentur, angebunden ist, wurde sie zu einer Art beruflicher Weiterbildung. Eher humanistische oder demokratische Ziele der allgemeinen, nichtberuflichen Erwachsenenbildung blieben dadurch außen vor. Die beruflichen Ziele wurden aber auch eher nicht erreicht.

Was bringt die Bildungskarenz den Beschäftigten?
Für viele einerseits zunächst einmal eher einen ökonomischen Verlust. Andererseits aber auch eine hohe Zufriedenheit, weil sie dadurch sonstige persönliche Ziele erreicht haben, eine Auszeit nehmen konnten, sich neue berufliche Möglichkeiten erschlossen haben.

Und auf Firmenseite?
Kam es zu einer größeren Flexibilisierung der Arbeitszeiten, auch der Wechsel zu einem neuen Arbeitgeber wurde dadurch für Beschäftigte leichter. Personal wurde nicht abgebaut.

Wie viel lässt sich der Staat die Bildungskarenz im Jahr kosten?
Für das Weiterbildungsgeld wurden im Jahr 2020 rund 250 Millionen Euro verausgabt – rund 13.700 Euro pro Person.

Ist es das wert im Vergleich zu anderen Maßnahmen?
Es ist eine individuell kostenintensive Maßnahme für spezielle Anforderungen, die in der Einschätzung der vergleichsweise gut gestellten Teilnehmer:innen erfolgreich war. Angesichts der Anforderungen an Flexibilisierung und berufliche Um- oder Neuorientierung ist sie wertvoll. Für sozialen Ausgleich ist sie – entgegen der Erwartungen – nicht geeignet. Reformen der Karenz haben eher in Richtung Verkürzung und Stückelung stattgefunden. Es gibt nun auch eine Teilzeitkarenz.

Und summa summarum trotzdem eine gute Sache?
Meines Erachtens ist fraglich, ob diese Maßnahme im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik gut positioniert ist. Zur Förderung der Erwachsenenbildung sollte sie besser in die Bildungspolitik eingebaut werden und wäre beispielsweise mit der Studienförderung abzustimmen.

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