zum Hauptinhalt
Ausharren in der neuen Realität. Viele Erdbebenopfer in der Türkei und in Syrien müssen gezwungenermaßen in Notunterkünften leben: in Zelten, Bunkern oder in schlimmsten Fällen auf der Straße zwischen Stühlen und aufgespannten Bettlaken.

© REUTERS/Nir Elias

Katastrophe in türkisch-syrischer Grenzregion: Es bebte wieder und es wird weiterbeben

Zwei Wochen nach den verheerenden Beben hat es die türkische Provinz Hatay wieder getroffen. Drohen weitere Todesfälle durch Infektionskrankheiten und Mangelversorgung?

Zwei Wochen nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien gab es am Montagabend erneut heftige Erdstöße in der Region. Die Beben erreichten eine Magnitude von bis zu 6,3 und zeigen, dass es noch lange dauern wird, ehe die Erdkruste zur Ruhe kommt. Mit weiteren Erdbeben ist zu rechnen, möglicherweise auch in entfernten Gebieten.

Am Montag lag das Epizentrum in der Provinz Hatay bei Antakya. Es befindet sich am Südende der 350 Kilometer langen Bruchzone, die vor zwei Wochen aktiviert wurde, erläutert Robin Lacassin vom Institut de Physique du Globe de Paris. „Das erinnert uns daran, dass starke Nachbeben über Wochen und Monate hinweg möglich sind“, schreibt er auf Twitter. „Gebt acht!“ Mindestens sechs Menschen kamen infolge der jüngsten Beben ums Leben.

Es gibt die Vermutung, dass nun auch die Erdbebengefahr in Istanbul erhöht ist, nachdem die Anatolische Platte etwas herausgequetscht und so die Spannung verändert wurde.

Joachim Saul vom Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam

Ursache für die Nachbeben sind Spannungen in der Erdkruste. Diese werden bekanntermaßen durch ein starkes Erdbeben gelöst: Das Gestein bricht, die Erdplatten ruckeln aneinander vorbei. Am Ursprungsort des Bebens, dem Hypozentrum, bringt das zwar Entspannung.

Ein eingestürztes Gebäude in Antakya. Die Provinz Hatay wurde am Montagabend von einem Erdbeben der Stärke 6.4 getroffen. Drei Minuten später folgte ein weiterer Erdstoß der Stärke 5.8.

© picture alliance / AA/Tahir Turan Eroglu

Doch infolge der Bewegung wird nun an anderen Teilen der Erdplatten stärker gedrückt und gezerrt. Dort nimmt die Spannung zu, was weitere Erdstöße auslöst. Seit dem 6. Februar wurden rund 7000 Nachbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet erfasst, berichtet der Seismologe Gilles Mazet-Roux.

„Es gibt sogar die Vermutung, dass nun auch die Erdbebengefahr in Istanbul erhöht ist, nachdem die Anatolische Platte etwas herausgequetscht und so die Spannung verändert wurde“, sagt Joachim Saul vom Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam. „Das ist nicht völlig unplausibel, wird aber in der Fachwelt kontrovers diskutiert.“

Ausharren in der Kälte

Während Hilfstruppen am Montag versuchten, Menschen, die durch die neuen Beben verschüttet wurden, zu befreien, versuchen sich Tausende Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien unterdessen an die schweren Lebensbedingungen zu gewöhnen. Viele Überlebende müssen gezwungenermaßen in Notunterkünften leben: in Zelten, Bunkern oder in schlimmsten Fällen auf der Straße zwischen Stühlen und aufgespannten Bettlaken.

Es drohen gesundheitliche „Nachbeben“. Die Versorgungsinfrakstruktur ist unterbrochen. Es gibt nur einen eingeschränkten Zugang zu sauberem Wasser, die Sanitär- und Hygieneeinrichtungen reichen längst nicht aus, Lebensmittel werden vielerorts unsachgemäß gekühlt und gekocht. Müll breitet sich aus, Hunderte Leichen konnten vermutlich noch nicht geborgen und beerdigt werden.

Ein Helfer sucht nach zugeschütteten Menschen. In Hatay sind bei einem zweiten Beben mindestens sechs Menschen ums Leben gekommen.

© picture alliance / AA/Tahir Turan Eroglu

Laut dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) können wegen dieser erschreckenden Umstände Infektionskrankheiten in den kommenden zwei bis vier Wochen verstärkt auftreten – vor allem jene, die über kontaminiertes Wasser oder Lebensmittel übertragen werden. Hepatitis-A-Virus, Noro- und Rotaviren sowie Cholera-Bakterien könnten sich verbreiten und Wellen von Magen-Darm-Infektionen auslösen, so die EU-Agentur.

Jetzt kommen zu den zwei Millionen Vertriebenen infolge des Krieges noch 180.000 Menschen infolge der Erdbeben hinzu.

Parnian Parvanta, stellvertretende Vorsitzende von Ärzte ohne Grenzen

„Im Herbst 2022 kam es in Syrien schon einmal zu einem Cholera-Ausbruch, auf den unsere Kolleg:innen vor Ort reagieren konnten“, berichtet Parnian Parvanta, stellvertretende Vorsitzende von Ärzte ohne Grenzen. Die Bevölkerung in Nordwest-Syrien habe infolge von zwölf Jahren Krieg bereits vor den Erdbeben unter prekären Bedingungen gelebt. „Jetzt kommen zu den zwei Millionen Vertriebenen infolge des Krieges noch 180.000 Menschen infolge der Erdbeben hinzu.“ In der Türkei hätten laut Experten mindestens zwei Millionen Menschen ihr Zuhause verloren.

Auch Atemwegsinfektionen seien laut der ECDC besorgniserregend. Covid-19, die saisonale Grippe und andere Atemwegsviren zirkulierten in den betroffenen Gebieten in mäßiger bis hoher Konzentration. Das Risiko steige durch das kalte Wetter und die beengten Verhältnisse. Überfüllung in den provisorischen Unterkünften seien nicht vermeidbar, was eine Übertragung leichter mache. Sehr junge und ältere Menschen hätten ein besonders großes Risiko, schwer zu erkranken, und müssten geschützt werden. Türkische Gesundheitsexpert:innen haben bereits mehrfach zum Tragen einer Maske ausgerufen.

2
Millionen Menschen haben in der Türkei ihr Zuhause verloren

Die Lebensumstände würden auch das Risiko der Übertragung von Krankheiten wie Masern, Windpocken, Hirnhautentzündung (Meningokokken-Meningitis) oder Kinderlähmung (Poliomyelitis) erhöhen. Diese seien durch Impfungen, die nun angeboten werden müssten, vermeidbar.

Für die Überlebenden, vor allem für Rettungskräfte, bestehe außerdem ein erhöhtes Tetanusrisiko durch offene Wunden. Die Tetanusprophylaxe müsse routinemäßig verabreicht werden.

In Iskenderun in der Provinz Hatay, wird Essen verteilt. Tausende Überlebende versuchen sich an die schweren Lebensbedingungen zu gewöhnen.

© REUTERS/ELOISA LOPEZ

Nur der Zugang zu sauberem Trinkwasser, angemessene sanitäre und hygienische Einrichtung, ein kontrollierter Umgang mit Lebensmitteln sowie eine schnelle medizinische Versorgung könne das Risiko von Infektionskrankheiten mindern. Impflücken müssten geschlossen werden. Die Menschen über die Gesundheitsgefahren aufzuklären und einzubinden, sei besonders wichtig, so die ECDC. „Die Hilfslieferungen von Medizin, Zelten oder Sanitäranlagen müssen sofort ausgeweitet werden“, so Parnian Parvanta.

„Die Überlebenden des Erdbebens haben einen großen Bedarf an psychosozialer Hilfe“, ergänzt sie. In der Türkei rufen Pädagog:innen dazu auf, dass vor allem Kinder schnell wieder „in den Alltag“ finden müssten. Die Schule könne als Ablenkung von der Katastrophe dienen. Lehrkräfte könnten dabei helfen, das Geschehene einzuordnen.

„Viele Menschen haben ihr Zuhause, ihre Angehörigen und Freunde verloren“, sagt Parvanta. Der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung sei zusätzlich erschwert. Mobile Teams von Ärzte ohne Grenzen würden vor Ort psychosoziale Unterstützung anbieten, der Bedarf sei jedoch immens.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false