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Charles Herbert Best, kanadischer Physiologe, 1960.

© IMAGO/Oxford Science Archive/Heritage Images

Heute vor 102 Jahren: Wie ein kanadisches Ärzteteam die Insulintherapie entwickelte

Noch Anfang des 20. Jahrhunderts kommt Diabetes für viele einem Todesurteil gleich. Doch nach und nach kommt die Medizin der Krankheit auf die Schliche – und dann entwickeln kanadische Ärzte eine revolutionäre Therapie.

Eine Kolumne von David Will

Im Frühling 1922 war Theodore Ryder dem Tode nahe. Mit vier Jahren hatte man bei dem Jungen aus New Jersey Diabetes diagnostiziert, mit fünf Jahren war er nur noch Haut und Knochen. In ihrer Verzweiflung griff die Familie nach einem letzten Strohhalm: Einer experimentellen Therapie, die Ärzte im kanadischen Toronto bald zum ersten Mal an Menschen testen wollten.

In quasi letzter Sekunde reiste ein Onkel von Theodore nach Toronto, verschaffte seinem Neffen einen Platz in der Studie – scheinbar wie durch ein Wunder gewann der Junge an Gewicht und war bald wieder wohlauf.

Dem Team um den Chirurgen Frederick Banting und seinen Assistenten Charles Best war damit gelungen, woran viele vor ihnen gescheitert waren. Diabetes – wegen des süßlichen Urins der Erkrankten auch als „Zuckerkrankheit“ bekannt – kam lange Zeit einem Todesurteil gleich. Vor allem Kinder verloren rapide an Gewicht und verstarben in der Regel bald nach ihrer Diagnose. Ärzte waren ratlos und griffen bis in das frühe 20. Jahrhundert zu den abwegigsten Gegenmitteln. Sie verschrieben ihren Patient:innen Opium oder rieten dazu, zum Ausgleich Riesenmengen Zucker zu sich zu nehmen. Andere wiederum setzten die ausgehungerten Kranken auf eine knallharte Diät, die viele nicht überlebten.

Doch um die Jahrhundertwende zeichnete sich ein Umdenken ab. Autopsien legten zunehmend nahe, dass die Krankheit durch eine fehlerhaft arbeitende Bauchspeicheldrüse verursacht wurde. Das bestätigten auch Experimente an Hunden: Die Tiere starben jämmerlich an Diabetes, wenn man ihnen die Drüse herausschnitt.

Frederick Banting erhielt gemeinsam mit John Macleod den Nobelpreis.

© IMAGO/piemags

Am 27. Juli 1921, heute vor 102 Jahren, gewannen Banting und Best schließlich das Hormon Insulin aus der Bauchspeicheldrüse eines Hundes. Ähnliches war bereits Jahre zuvor dem Deutschen Georg Ludwig Zülzer und dem Rumänen Nicolae Paulescu gelungen. Doch erst die rigorosen klinischen Studien von Banting, Best und ihren Kollegen brachten den ersehnten Erfolg: Die Insulintherapie, deren Entwicklung im Jahr 1923 mit dem Nobelpreis gewürdigt wurde. Dadurch erhalten die Patienten das Hormon, das dafür sorgt, dass Zucker aus der Blutbahn in die Körperzellen gelangt.

Heute leben in Deutschland rund 8,5 Millionen Menschen mit Diabetes. Jeder Zwanzigste von ihnen leidet an dem angeborenen Diabetes Typ 1, bei dem der Körper gar kein eigenes Insulin produzieren kann. Diesen Menschen rettet die Insulintherapie jedes Jahr das Leben – genau wie dem kleinen Theodore Ryder vor über hundert Jahren.

Lesen Sie alle bisher erschienenen Folgen der „Tagesrückspiegel“-Kolumne hier.

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