zum Hauptinhalt
Close up beautiful abstract violet, red colored fingerprint on  background texture for design. Macro photography view.

© Oleksandr - stock.adobe.com

Heute vor 118 Jahren: Die Justiz schaut auf die Finger

Im Mai 1905 bringen Räuber ein Ehepaar in London um. Sie fliehen ungesehen, lassen aber einen entscheidenden Hinweis am Tatort zurück.

Eine Kolumne von David Will

An einem Morgen vor rund 118 Jahren steht William Jones vor verschlossenen Türen und wundert sich. Der Laden im Südosten Londons, in dem er arbeitet, sollte längst geöffnet haben, die Besitzer sind aber nirgends zu sehen. Weil auf Klopfen niemand reagiert, ruft Jones einen Nachbarn herbei, bricht mit ihm die Türen auf – und findet im Ladeninneren seinen erschlagenen Chef und dessen schwerverletzte Ehefrau, die bald darauf ebenfalls stirbt.

Weniger als zwei Monate später, am 5. Mai 1905, stehen zwei Brüder für den Doppelmord vor Gericht. Niemand hat Alfred und Albert Stratton bei der Tat beobachtet, dennoch verurteilt das Gericht die beiden Männer zum Tode durch den Strang. Der entscheidende Beweis: ein Fingerabdruck vom Tatort, der nahezu perfekt zum Daumen von Alfred Stratton passt. In England ist es das erste Mal in der Geschichte, dass Fingerabdrücke zu einer Verurteilung führen – ein Sieg, der der Daktylografie, der jungen Disziplin der Vermessung von Fingerkuppen, weltweit Aufmerksamkeit und Ansehen verschafft.

Zwar wurde schon 1892 die Mörderin Francisca Rojas, die zwei ihrer Kinder umgebracht hatte, in Argentinien durch Fingerabdrücke überführt und verurteilt. Dennoch blieb die Methode lange umstritten. Die Kriminalistik interessierte sich eher für Körpermerkmale wie Statur, Armspannweite und Sitzhöhe von Verdächtigen. Sogar Länge der Füße und Breite der Ohren vermaßen Ermittler im Versuch, Personen eindeutig zu identifizieren. Doch das erwies sich als notorisch unzuverlässig.

Die Rillen auf den Fingerspitzen hingegen sind einzigartig. Sie bilden sich bereits im Mutterleib und bleiben einem Menschen sein Leben lang erhalten. Kein Muster gleicht dem anderen, nicht einmal bei eineiigen Zwillingen.

Ende des 19. Jahrhunderts dämmert es schließlich einigen, was man mit diesem Wissen anfangen könnte. In Indien verpflichtet der britische Kolonialbeamte William Herschel Geschäftsleute dazu, auf Verträgen ihre Fingerabdrücke zu hinterlassen.

In Japan fallen dem schottischen Missionar Henry Faulds die Fingerabdrücke auf lokalen Töpferwaren auf, woraufhin er zunächst erfolglos versucht, Scotland Yard von deren Nutzen zu überzeugen. Nachdem dann aber auch der einflussreiche Statistiker Francis Galton Fingerabdrücke als die „wichtigste aller anthropologischen Daten“ bezeichnet, führt die Technik 1902 in England erstmals in einem Prozess zur Verurteilung eines des Diebstahls Verdächtigen zu sieben Jahren Haft. Doch wirklich akzeptiert sind Fingerabdrücke als Beweismittel erst seit dem 5. Mai 1905, seit der Verurteilung der Stratton-Brüder.

Lesen Sie alle bisher erschienenen Folgen der „Tagesrückspiegel“-Kolumne hier.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false