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Als „Brunnenvergifter“ erschlagen, verbrannt, vertrieben: Kölner Juden.

© Getty Images/Culture Club

Heute vor 674 Jahren: Irgendeiner muss ja schuld sein

Als in Europa Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest umging, starben auch Juden. Allerdings häufiger durch die Hand der christlichen Nachbarn, die ihnen die Schuld für die Epidemie gaben, als durch die Pestbakterien.

Eine Kolumne von Sascha Karberg

In der christlich geprägten Welt ist „der Jude“ seit jeher der bevorzugte Sündenbock. Die jüdische Religion, aus der das Christentum einst entstand, wurde von den spätantiken Kirchenvätern als verderbt und von Gott verworfen gebrandmarkt. Seither wurden die Juden – und werden es noch immer – für alle möglichen Übel verantwortlich gemacht. Eine klassisch-antijüdische Verschwörungserzählung des Mittelalters ist die Brunnenvergiftung.

Als 1348 die Pest über Sizilien nach Marseille, Avignon, Paris und schließlich auch in deutsche Städte gelangt, können sich die Menschen die Ursache der Seuche, an der Zigtausende hilflos sterben, nicht erklären. Fern jeder Vorstellung ist es, dass winzige Mikroben über Bisse von Rattenflöhen ins Blut der Menschen gelangen und ihre Organe befallen, bis sie qualvoll sterben.

Und wo Wissen fehlt, gedeihen Gerüchte. Die Mär, Juden hätten die Brunnen vergiftet, erreicht Köln sogar schneller als die Bakterien. Obwohl die Pest dort erst im Januar 1350 ausbricht, ist das Volk spätestens 1349 schon überzeugt, dass aus dem Judenviertel Unheil droht.

Als am 14. August 1349 der Erzbischof Walram stirbt, Schutzherr der jüdischen Gemeinde, spitzt sich die Hysterie unter den Kölner Bürgern zu. Wer es letztlich ist, der in der Nacht auf den 24. August 1349 in das Judenviertel der Stadt eindringt, ist umstritten. In städtischen Dokumenten ist von „Pöbel und Auswärtigen“ die Rede. Sie hätten die Juden „buyssen willen ind zudoin des raitz in der gueder luyde unser burgere van Coelne“ verbrannt und ihre Habe geraubt. Ein kläglicher Versuch der Kölner Bürger, die eigene Verantwortung zu vertuschen.

Sicher ist, dass nach stundenlangem Gemetzel und Brandschatzen am Morgen des 24. August 1349, heute vor 674 Jahren, tausende Männer, darunter vier Rabbiner, Frauen und Kinder tot sind. Verbrannt in ihren Häusern, erschlagen in ihren Straßen. So wie in vielen europäischen Städten zwischen 1348 und 1351: in Genf, Solothurn, Straßburg, Freiburg, Feldkirch, Zürich, Mainz, Worms, Speyer, Koblenz, Brüssel, Trier, Nürnberg, Königsberg...

Trotz all dem siedeln sich in Köln wieder Juden an. Knapp 600 Jahre und unzählige Pogrome später kulminiert der antijüdische Verschwörungswahn dann in der industriellen Massenvernichtung.

Lesen Sie alle bisher erschienenen Folgen der „Tagesrückspiegel“-Kolumne hier.

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