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Röntgenärzte stellen anhand von Bildmaterial Krankheiten und Verletzungen fest. Umstritten ist, ob Ferndiagnosen Radiologen vor Ort ersetzen können.

© picture alliance / dpa

Telemedizin: Krebsdiagnose aus Indien

Röntgenbilder können weltweit ausgewertet werden – kleine Krankenhäuser nutzen so Spezialwissen. Doch nicht alle Experten sind überzeugt.

„Frische Ischämie rechts frontal. Vaskulär-ischämische Läsionen beidseits okzipital“, spricht der Radiologe der Berliner Charité in ein Mikrofon. Prompt tauchen die Worte dank Spracherkennungssoftware auf einem Monitor auf. Den Patienten hat der Arzt nie gesehen.

Muss er auch nicht. Radiologie funktioniert sogar aus tausenden Kilometern Entfernung, hat sich der gebürtige Inder Biju Thomas Mathew gedacht, der als Kardiologe am Katholischen Klinikum Ruhrgebiet Nord arbeitet. 2010 hat er das Unternehmen „Heidelberg Medical Consultancy“ in Indien gegründet, das Hirnscans, Röntgenaufnahmen und Mammografien rund um den Globus auswertet. Die Befunde schreiben über 100 indische Radiologen, als Freiberufler.

Mathew ist mit seiner Geschäftsidee nicht alleine. Dutzende Unternehmen in Osteuropa, China und Indien suchen nach Tumoren und Schlaganfällen in den Bildern von Patienten aus den USA, Australien und Europa. Und es werden ständig mehr. „Die Radiologie hat die Chance, die erste globale Medizin zu werden“, freut sich der Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft, Michael Forsting, und schwärmt: Das sei eine Antwort auf den Nachwuchsmangel. Schon jetzt arbeiten kleinere Kliniken mit größeren Krankenhäusern zusammen, um der Bilderflut Herr zu werden. In der Nacht und bei hohem Krankenstand schicken sie die Aufnahmen verschlüsselt durchs Netz. Einige Krankenhäuser greifen sogar rund um die Uhr auf die Ferndiagnose zurück, etwa das Stiftungskrankenhaus im schwäbischen Nördlingen und die Kreisklinik Unterallgäu in Mindelheim. Noch sitzen die Teleradiologen in der nächstgrößeren Stadt. Doch in Zukunft würden die Befunde aus dem Ausland kommen, ist Forsting sicher.

Die Ferndiagnosen der Charité-Radiologen sparen Geld und Zeit

Die Radiologen der Charité erhalten nachts die Aufnahmen vom Dominikus-Krankenhaus und vom Krankenhaus Waldfriede in Berlin. Solche teleradiologischen Kooperationen sparen Geld und Zeit, besagen Untersuchungen. Das Personal wird ausgedünnt. Der Mediziner Volker Stark kommt zu dem Ergebnis, dass das Kreiskrankenhaus Mindelheim dank Ferndiagnose pro Computertomografie fast 25 Prozent spart.

Kliniken in den USA beauftragen Inder und Chinesen. Diese sichten aufgrund der Zeitverschiebung die nachts aufgenommenen Bilder am Tag. Die Gehälter der indischen Kollegen betragen nur rund ein Fünftel des US-Salärs, lässt Mathew durchblicken. Aber die Befunde seien mindestens genauso gut.

Teleradiologische Konzerne werben gerne mit Qualität. „Alle Diagnosen werden vor dem Versand nochmals von einem weiteren Facharzt geprüft“, sagt Dorota Galuszka, Managerin der in Prag ansässigen „Teleradiology Europe“. Rund 100 tschechische Radiologen erstellen die Befunde für dieses Unternehmen auf Honorarbasis. Kunden sind Kliniken aus Spanien, den USA, der Slowakei und Georgien. Michael Forsting hat keinen Zweifel an der Qualität. Die Radiologie sei hochspezialisiert und Teleradiologiebetriebe könnten die Bilder von Fachleuten auswerten lassen. „Die erkennen seltene Erkrankungen, die sonst übersehen werden. Und die auf Blickdiagnosen trainierten Kollegen sind viel schneller“, sagt er.

Schneller, besser und preiswerter – der Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft mag nichts Schlechtes an der Ferndiagnose finden. Dass der Doktor einen Anonymen verarztet, sei auch kein Problem. „Alles, was man wissen muss, kann in einem Arztbrief stehen“, sagt Forsting.

Fehlt es an wesentlichen Informationen, drohen falsche Informationen

Etliche Radiologen widersprechen allerdings. „Dass eine teleradiologische Versorgung besser ist, halte ich für Unsinn“, schimpft Christian Bauknecht, Neuroradiologe an der Charité. In fast jedem Nachtdienst telefonieren die Kollegen mit den teleradiologisch betreuten Krankenhäusern, weil die mitgeschickten Informationen Fragen aufwerfen.

Wenn Angaben fehlen, kann es zu Fehlinterpretationen kommen. Bauknecht nennt ein Beispiel: Ein aufgehellter Bereich im MRT könne einen Tumor oder eine Entzündung darstellen. Ausschlaggebend sind dann Beschwerden. Hat der Patient Fieber und zirkulieren in seinem Blut Krankheitskeime, handelt es sich eher um eine Entzündung.

Teleradiologische Betriebe agieren jedoch abgeschottet von Kliniken. Nachgefragt wird nur selten, sagt Galuszka von „Teleradiology Europe“. Den Charité-Radiologen Bauknecht wundert das nicht. Die Kommunikation steht und fällt damit, dass man sich kennt. „Ich hänge fast den ganzen Tag am Telefon oder stehe mit Kollegen zusammen, um Befunde zu besprechen“, sagt er. „Ich schaue mir die Aufnahmen immer zusammen mit den Chirurgen an.“

Die Bilder mögen unumstößlich sein, ihre Interpretation ist es nicht. Seit Jahren treffen sich Radiologen der Charité wöchentlich mit behandelnden Ärzten. Ist die Auffälligkeit im MRT ein Bandscheibenvorfall oder Relikt einer früheren OP? Manchmal gehen die Meinungen auseinander. „Es gibt keine absolute Wahrheit, deshalb ist der Austausch so wichtig“, sagt Bauknecht. „Im Mittelpunkt steht der Patient, nicht das Bild.“

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