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Im September 2020 gingen Menschen auf die Straße, um für die Unabhängigkeit einer Kunst-Uni zu demonstrieren.

© AFP Attila Kisbenedek

Zwei Jahre nach dem Verbot: Wie geht es den Gender Studies in Ungarn?

Unter Viktor Orbán dienen Gender Studies als politisches Feindbild. Aber ungarische Fachvertreter*innen finden Wege, weiter zu lehren und zu forschen.

Wenn etwas verboten ist, wird es noch interessanter. Was die meisten Eltern wissen, funktioniert auch bei verbotenen Studienfächern. In Ungarn sind es die Gender Studies, oder Geschlechterwissenschaften, deren Akkreditierung die ungarische Regierung 2018 per Dekret zurückgezogen hatte.

Praktisch bedeutet das: Im Land darf kein Diplom in Gender Studies vergeben werden. Forschung und Lehre dieses interdisziplinären Themengebiets gibt es jedoch an vielen Universitäten weiterhin.

An der Corvinus-Universität in Budapest unterrichtet und forscht Professorin Beáta Nagy seit Jahrzehnten zu Geschlechterungleichheiten in Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Gender Studies ist weiterhin ein Pflichtfach in den Soziologie-Studiengängen der Universität.

Seit dem Anti-Gender-Dekret habe das Interesse der Studierenden an der Thematik stark zugenommen, bemerkt Nagy. Das sei der einzige „Vorteil“ dieses Verbots. Früher habe sie im Seminar erstmal erklären müssen, was Gender Studies sind und warum das Fach relevant ist. Nun hätten viele Studierenden schon von dem Verbot gehört und wüssten auch, warum es wichtig sei über geschlechterbedingte Ungleichheiten zu reden.

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Auch Anikó Gregor ist Soziologin, an der Budapester ELTE-Universität. Bis zum Dekret war sie dort verantwortlich für den dortigen Masterstudiengang Gender Studies. Dieser verlor zwar seine Akkreditierung, sie kann aber dennoch weiter zu ihrem Themengebiet forschen, den Beziehungen zwischen Neoliberalismus, Feminismus und Geschlechterungleichheiten in Mittelosteuropa.

Schon 2018 demonstrierten Menschen in Ungarn für akadmische Freiheit.

© AFP Attila Kisbenedek

Durch die Debatte um das Fachgebiet habe die Forschung von Expertinnen wie Gregor sogar größere Aufmerksamkeit bekommen. „Bis heute ist das eine Chance für uns: Wir können das Thema Geschlechterungleichheiten weiter auf der Tagesordnung halten“, teilt Gregor dem Tagesspiegel mit. Zuletzt war sie Fellow an der Freien Universität Berlin im Programm „Academy in Exile“ für Wissenschaftler*innen, die in ihrer Heimat nicht frei forschen können.

Beáta Nagy sagt, ihre Forschungsarbeit wurde durch das Dekret nicht direkt beeinflusst. Sie stellt regelmäßig Anträge auf Forschungsgelder und bekommt diese auch beschieden. Ihr Arbeitgeber schätze es, wenn sie Forschungsgelder an Land bringt oder gute, internationale Publikationsergebnisse erreicht. Dennoch werde das Thema Geschlechterungleichheiten „stiefmütterlich behandelt“, sagt Nagy. Zum Beispiel würden freigewordene Lehrstühle nicht neu besetzt.

LGBTQ-Anliegen dienen als Feindbild

Das ist nicht überraschend. Die Forscherinnen Andrea Pető, Weronika Grzebalska and Eszter Kováts stellen in ihrem Artikel „Gender as symbolic glue“ fest, dass „illiberale Populisten“, wie Viktor Orbán in Ungarn, Jaroslaw Kaczynski in Polen oder Donald Trump in den USA, die „Gender-Ideologie“ als Metapher nutzen für Unsicherheiten und Ungleichheiten, die ihre Wurzeln in der aktuellen sozioökonomischen Lage dieser Länder haben. Gerade erst hat Orbán angekündigt, eine neue rechte Fraktion im Europäischen Parlament zu gründen, die auch für den Kampf gegen einen vermeintlichen „LGBT-Wahnsinn“ steht.

Die Forschung der Geschlechterungleichheiten wird bei diesen Politikern gegen die wertkonservative Familieneinheit ausgespielt. Nach dem Anti-Gender-Dekret setzte sich die Regierung Orbán für die Akkreditierung von Studiengängen in „Familienwissenschaften“ ein.

In der Ungarischen Akademie der Wissenschaften wurde ein neues Forschungszentrum für Familienwissenschaften gegründet, unter den Forscher*innen befinden sich auch einige, die sich mit Geschlechterwissenschaften beschäftigen.

Kaum staatliches Geld für Gender-Themen

Das verschiebt den Forschungsschwerpunkt: „Man kann nicht mehr über das Verhältnis von Männern und Frauen innerhalb der Familie reden, oder über das Verhältnis der Geschlechter außerhalb der Familieneinheit“, kommentiert Anikó Gregor. Es mache einen großen Unterschied, ob man sich als Geschlechterforscherin mit den heteronormativen Geschlechtsrollen und Geschlechterungleichheiten beschäftigt oder mit Sexualitäten oder LGBTQ-Themen. Bei letzteren seien die Chancen auf staatliche Forschungsgelder schlecht bis unmöglich.

Die Entwicklungen um die Gender Studies finden vor dem Hintergrund eines immer größeren Eingriffs der Regierung in die ungarischen Wissenschaftslandschaft statt – von der Vertreibung der internationalen „Central European University“ zur Zerschlagung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.

Nun hat der Umbau die Universitäten erreicht. Bis auf sieben Institutionen werden alle Hochschulen im Land, von der Film- über die Agrarhochschule bis zur Corvinus-Universität, an der Beáta Nagy arbeitet, nicht mehr von einem autonomen Gremium sondern von Stiftungen verwaltet, die von der Regierung gegründet wurden.

Das Stiftungsmodell verspricht „mehr Freiheit und flexibleres Management“, wie der Wechsel etwa auf der Webseite der Budapester Moholy-Nagy-Designhochschule erklärt wird. Doch Kritiker befürchten, dass sie die Autonomie der Institutionen, besonders über die Verwaltung ihrer Forschungsgelder, einschränken.

„Ein Kampf gegen Windmühlen lohnt sich nicht“

Denn die Stiftungen leiten Kuratorien, über deren Besetzung das Ministerium für Innovation und Technologie entscheidet. Viele Kuratoriumsmitglieder stammen aus der Wirtschaft, gelten als politisch loyal oder sind sogar aktuelle Regierungsmitglieder.

Zwar hatte das Stiftungsmodell bisher keine direkten Auswirkungen auf Beáta Nagys Arbeit. Aber generell sieht Nagy, dass die Soziologie als „kritische Wissenschaft“ immer weiter zurückgedrängt wird. „Wir werden immer weniger am Lehrstuhl. Dieser Rückgang an Bedeutung und Größe ist für mich schmerzhaft.“ Ob das bewusst passiert, könne sie nicht beurteilen. Aber es könne Mechanismen geben, „die zu diesem Ergebnis führen“, vermutet Nagy.

Beáta Nagy bleibt vorsichtig. Sie sagt auch mal Anfragen ab, wenn sie vermutet, dass sie damit in die Schusslinie der Anti-Gender-Aktivisten geraten könnte. „Ein Kampf gegen Windmühlen lohnt sich nicht“, sagt sie. Diese Energie möchte sie lieber in die Lehre stecken.

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