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Gefühle sind keine Reflexe, sondern werden vom Körper „konstruiert“.

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Wut, Trauer, Leidenschaft: Wie der Körper Gefühle konstruiert – und wie sich das nutzen lässt

Ist der Mensch seinen Emotionen ausgeliefert? Nein, meint die Psychologin Lisa Feldman Barrett in ihrem Buch „Wie Gefühle entstehen“. Mit ihrem Konzept der Gefühlskonstruktion könnten auch Depressionen besser verstanden und behandelt werden.

Angst, Wut, Trauer oder Glück – Gefühle scheinen uns zu „übermannen“ und sind mitunter nur schwer zu kontrollieren. Etwa wenn der Chef mal wieder sinnlose Arbeit verteilt, der Ärger darüber hochkocht und von der Vernunft, jetzt besser nicht loszubrüllen und gefeuert zu werden, kaum im Zaum gehalten werden kann. Schlimmer noch ergeht es Menschen, die von Panikattacken überwältigt werden.

Es scheint, als würde ein Auslöser, ein Trigger wie der gefürchtete Chef, einen Schalter drücken, der ein „Gefühlsprogramm“ startet, das dann reflexartig abgespult wird – mitsamt den dazugehörigen körperlichen Reaktionen wie Angstschweiß, Herzrasen oder ähnlichem. Jede Gefühlsregung hätte demnach einen einzigartigen „Fingerabdruck“. Und nur die Vernunft wäre in der Lage, diese animalische, angeborene Gefühlswelt zu modulieren und zu kontrollieren. Von Aristoteles bis Freud, von Descartes bis Darwin hat dieses Menschenbild, das allein die Ratio Homo sapiens zu mehr als einem emotional gesteuerten Tier macht, die westliche Kultur geprägt.

Und es ist falsch.

Emotionen sind nicht das, was wir üblicherweise über sie denken.

Lisa Feldman Barrett, Professorin für Psychologie an der Northeastern University und Dozentin an der Harvard University

Davon ist Lisa Feldman Barrett überzeugt. „Emotionen sind nicht das, was wir üblicherweise über sie denken“, schreibt die Professorin für Psychologie an der Northeastern University und Dozentin der Harvard University in ihrem Buch „Wie Gefühle entstehen“. Gefühle seien „keineswegs angeboren, sondern bestehen aus grundlegenden Bausteinen“, sie werden „konstruiert“. „Es handelt sich nicht um universelle Reaktionsmuster, sondern [Gefühle] variieren von Kultur zu Kultur“, meint Feldman Barrett. Gefühle würden nicht getriggert, sondern erzeugt, aus den physischen Eigenschaften des Körpers, dem flexiblen, die Umwelteinflüsse berücksichtigenden Gehirn und der Kultur, die den Menschen prägt.

Die Kunst sich gut zu fühlen

Diese „Theorie der konstruierten Emotion“, für die Feldman Barrett in ihrem Buch viele Belege mit überraschenden Beispielen auf einfach verständliche und zugleich spannende Art und Weise präsentiert, hat dramatische Konsequenzen. Nicht nur für das Selbstbild, das Selbstverständnis des Menschen über seine Natur, den „inneren Kampf“ zwischen Ratio und Emotion. Sondern auch für den alltäglichen, ganz praktischen Umgang mit der eigenen Gefühlswelt.

Lisa Feldman Barrett: „Wie Gefühle entstehen. Eine neue Sicht auf unsere Emotionen“, Rohwolt 2023, 672 Seiten, 26 Euro

© Rohwolt

Zwar kann allein das Wissen, dass und wie Gefühle konstruiert werden, nicht sofort beeinflussen, wie wir mit Panikattacken, Wut oder Depression umgehen. Doch Feldman Barrett gibt konkrete Tipps, wie sich künftige emotionale Erfahrungen ändern lassen und wie das Verhalten dadurch allmählich moduliert werden kann. Nur ein Beispiel: Da nicht nur der Geist die Gefühle „macht“, sondern auch Körperfunktionen wie Herzfrequenz, Atmung, Blutdruck, Hormone und mehr über Wohl- und Unwohlsein bestimmen, ist der erste Tipp der Psychologin, das „Körperbudget in Schuss zu halten“. Ist es durcheinander, zu wenig Schlaf, zu schlechte Ernährung, zu wenig Sport, „dann werden Sie sich mies fühlen, ganz egal, welche Selbsthilfetipps Sie akribisch befolgen“.

Das klingt banal, gibt Feldmann Barrett sogar selbst zu. Aber anders als bei der 327. Ratgeberkladde versteht der Leser dieses Buches am Ende besser, warum Verzicht auf Chips und Zucker und die Überwindung zum Frühsport der erste wichtige Baustein für Glücksgefühle ist.

Lisa Feldman Barretts Buch ist bereits ein Klassiker. Dass es erst jetzt, sechs Jahre nach der englischen Erstausgabe nun auch auf Deutsch erschienen ist, ist einerseits ein Versäumnis, andererseits unterstreicht es die andauernde Bedeutung, die ihre Theorie von den konstruierten Gefühlen hat. Eine Wissenschaft, mit der Feldman Barrett am Ende sogar die uralte, große Frage der Biologie zu beantworten versucht, wie das menschliche Gehirn den menschlichen Geist hervorbringt.

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